AI überschwemmt das Internet. Wohin fliehst du?
Außerdem: ein neuer Name für diesen Newsletter. Und die längste Linkliste ever.
du liest den newsletter von gregor schmalzried in seiner ersten ausgabe, in der er nicht mehr “cool genug” heißt.
ich habe “cool genug” im januar 2021 gestartet, als meme- und internetkultur-themen noch ein größerer und offensichtlicherer fokus für die texte hier waren. mittlerweile hat sich das geändert – schließlich hat die welt das auch getan. und “cool genug” ist keine gute marke mehr für etwas, das letztlich einfach nur ein persönlicher blog ist. zumindest tue ich mich im anschluss an vorträge und workshops immer etwas schwer damit, das zu erklären. :)
obwohl es etwas schade ist (immerhin hat dieser newsletter unter dem alten namen mal den goldenen blogger gewonnen und steht deshalb auf wikipedia), habe ich mich deswegen entschieden, diesen newsletter zu “entbranden”.
das heißt: kein neuer name, kein neues branding.
ab sofort laufen meine texte über gregorschmalzried.blog. einfach zu merken. und zu vermitteln. :)
AI überschwemmt das Internet. Wohin fliehst du?
1 DIE FLUT
Wir werden angegriffen.
Die digitale Welt wird verstopft von wertlosem, AI-generiertem Nonsens-Content.
In seinem Text “Here lies the internet, murdered by generative AI” zeichnet Autor Erik Hoel (der das Ganze in abgewandelter Form kurz darauf auch in der New York Times geschrieben hat) ein düsteres Bild von der Gegenwart des Internets:
Fake-Lernvideos für Kinder auf YouTube, die sich nicht an die Regeln der Physik halten
Fake-Bilder von Midjourney, die in den Google-Suchergebnissen echter Personen landen
Fake-Kommentare unter Tweets und Reddit-Posts, direkt aus der API von GPT-4
Fake-Gemälde, angeblich aus den 1800ern, in Wahrheit aus einer synthetischen Gegenwart
Fake-Menschen auf Facebook, die nicht-existierende Torten monetarisieren
Wir alle wissen, dass diese Technologie immer besser wird. Und trotzdem versteht man es nicht wirklich, bis man die Beispiele vor sich hat.
Bis man sieht, wie AI-generierte Katzenvideos vor 10 Monaten aussahen, und wie sie heute aussehen.
Bis man GPT-4 einen Song über ein Haushaltsproblem texten lässt (“ich habe eine tüte mit mandelsplittern, die ich gerne in mein müsli tue, aufgerissen statt aufgeschnitten und jetzt wird der riss immer größer und beim nutzen der mandeltüte bröseln immer mandelsplitter auf meine arbeitsplatte”), diesen Text dann in suno.ai einspeist und in circa 40 Sekunden diesen Song bekommt:
(ja, ich habe seit gestern einen üblen Ohrwurm)
Und das geht jetzt erstmal so weiter.
Bald werden AI-generierte TikTok-Videos Millionen Klicks einsammeln. AI-generierte Romane werden auf Amazon und Goodreads unter den Top-Sellern landen und AI-generierte Songs in den wichtigsten Playlists auf Spotify.
Vor über einem Jahr habe ich in diesem Newsletter das “ewige Captcha” beschrieben.
Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis KI-generierte Inhalte alle verfügbaren Flächen im Internet füllen wie Gas. Deepfakes, KI-Kunst, automatisch generierte Artikel, Musik aus dem Reagenzglas... Maschinencontent wird normal sein – so normal, dass wir unseren Augen nicht mehr trauen.
Erst einmal wird das bedeuten, dass viele von uns “falschen” Content für echten halten. Aber von dort ist es nicht weit zur Gegenbewegung: Dass wir etwas aufrufen, das ein Mensch selbst geschaffen hat… und nur einen Roboter sehen.
Passiert das jetzt auch mit Kunst, mit Gemälden und Text?
Mit Musik?
Verliert alle Kunst ihre Identität? Wird unsere Kultur zu Brei?
2 WAS NICHT FUNKTIONIERT
Im Internet formiert sich ein möglicher Lösungsvorschlag für diese Sorge:
AI in den Culture War hinein zu ziehen.
In bestimmten Online-Szenen brodelt aktuell ein Backlash gegen Generative AI in Kunst und Kultur. Es gibt Boykott-Aufrufe gegen den Horrorfilm Late Night with the Devil, weil er an einigen Stellen AI-generierte Grafiken einsetzt. Auf der SXSW-Konferenz wurde ein “Pro AI"-Clip vor einer Filmvorführung ausgebuht.
Der Gedanke hinter dieser “Bewegung” ist es, die Nutzung von synthetischen Medien als toxisch zu branden – und zwar als so toxisch, dass es für Medienunternehmen zum Risiko wird, AI einzusetzen. Diese Strategie hat schließlich schon einmal ein bisschen funktioniert – und zwar während der Web3-/NFT-Welle. Zwar wird immer noch an Blockchain-Projekten gearbeitet, aber die Stimmung rund um diese Begriffe ist seit 2021 merklich abgekühlt. Klar, die diversen bekannten Betrugsfälle in der Web3-Industrie dürften da auch etwas damit zu tun haben.
Vor allem aber ist Web3 eine potentielle Technologie – immer schon gewesen. Für ein Unternehmen ist es easy, Blockchain zu depriorisieren. Die meisten Use Cases funktionieren ja eh nur vielleicht irgendwann in der Zukunft.
Generative AI ist anders.
Generative AI funktioniert jetzt schon und wird in großem Ausmaß eingesetzt – oft in Bereichen, die für die Öffentlichkeit komplett unsichtbar sind.
Menschen und Unternehmen zu brandmarken, weil sie “irgendwas mit AI” machen, ist eine Losing Strategy. Niemand, der schon produktiv mit AI gearbeitet hat, wird darauf wieder verzichten wollen.
3 WAS (VIELLEICHT) FUNKTIONIERT
Was bleibt also?
Kapitulation vor unseren AI Overlords? Zulassen, dass AI-generierter Schlotz die digitale Welt verstopft?
Ein erster Schritt könnte sein: Zu erkennen, dass AI und Schlotz nicht das Gleiche sind.
Zu den vielen interessanten Künstlern der AI-Zeit gehört Vladimir Alexeev, auch bekannt als “Merzmensch”. Seit Jahren schon arbeitet er mit synthetischen Kunstwerken, in Bild und Ton. Ich verfolge seine Arbeiten schon länger – auch deshalb, weil man nicht viel davon sehen muss, um zu erkennen, dass Alexeev einen Stil hat, wiederkehrende Motive und Themen, die er in den verschiedensten AI-Modellen erforscht.
Ich kann nicht sicher sagen, ob Alexeev dieser Interpretation zustimmen würde… Aber für mich sind diese Bilder gerade deswegen interessant, weil ein Mensch mit im Loop ist. Weil menschliches Urteilsvermögen mit hineinfließt. Weil das Werk Fragen stellt. Sich an uns reibt.
Und das alles, “obwohl” so viel AI dort drin steckt.
Auf der anderen Seite gibt es auch jede Menge Schlotz-Content im Internet, der zu 100% menschlich ist. Hustle-Bros, Bullshit-Hacks, Gender Wars und Vanity-Influencer, verpackt in 30-Minuten-TikTok-Sessions, an deren Ende wir uns an kein einziges Video mehr erinnern können, uns einfach nur schlechter fühlen als vorher. Instagram und TikTok sind voll mit “menschengemachtem” Content, denen das komplett fehlt, was Alexeevs Werk hat: Bedeutung.
Eine Flucht vor dem, was an AI-Inhalten auf uns zukommt, muss gleichzeitig eine Bewegung auf etwas zu sein. Und Bedeutung ist die beste Richtung, die wir haben.
Wenn uns ein Kunstwerk bewegt… dann weil wir ihm diese Bedeutung geben. Durch die Geschichte des Künstlers. Durch sein Auffangen von Dingen, die uns bekannt vorkommen. Durch irgendwelche diffusen Prozesse im präfrontalen Kortex.
Doch Verstopfung bringt keine Bedeutung. Wenn die ganze Stadt mit Starbucks zugepflastert wird, wird der kleine Kaffeeladen wieder interessant. Wenn jeder Sänger wie Ed Sheeran klingt, wird ein neuer Sound cool. Wenn das Internet sich mit seelenlosen Inhalten füllt, gewinnen die merklich menschlichen an Bedeutung. Die, die das ewige Captcha bestehen.
Nur weil eine AI etwas kann, heißt es nicht, dass wir es auch von ihr wollen.
Eine Party mit DJ ist immer besser als eine mit Spotify-Playlist.
4 CODE UND WELLEN
Das “Hard Problem of Conciousness” ist die ungelöste Frage, warum wir Menschen die Welt um uns herum fühlen und nicht nur wahrnehmen. Warum Lichtwellen in unserem Kopf zu Farbenspielen werden, Klangwellen zu Musik und Text zu Geschichten. Es ist die Frage, warum man einem Roboter und einem Menschen das gleiche Musikvideo zeigen kann, beide die exakt gleiche physische Warnehmung haben können, aber nur der Mensch mit dem Musikvideo vibet.
Anders gesagt: Es ist die Frage, warum wir Menschen ein Bewusstsein haben.
Ich bin in den letzten Monaten großer Fan von Magdalena Bay geworden, einer Indie-Band mit sehr speziellem Stil zwischen der physischen und der digitalen Welt. Und sehr guten Songs.
Könnte eine AI diesen Song und dieses Video auch erstellen? Also, theoretisch?
Vielleicht. Letztendlich gibt es zwischen Magdalena Bay und dem Mandelsplitter-Song keine magischen Barrieren. Alles daran, Bild und Ton, sind nur Code und Wellen.
Und doch spüre ich bei Magdalena Bay etwas, was dem Mandelsplitter-Song immer fehlen wird – egal wie gut die Technologie von suno.ai noch wird. Magdalena Bay wurde von jemandem gemacht. Der Mandelsplitter-Song nicht.
Kunst, die niemand gemacht hat, ist nur leere Signale. Licht und Lärm in verschiedenen Wellenlängen.
Die klassische Debatte um abstrakte Kunst klingt in etwa so:
“Das hätte ich auch machen können”. — ”Hast du aber nicht. Die Künstlerin aber schon.”
Die neue Debatte um rein AI-generierten Automaton-Content könnte in etwa so klingen:
“Das hätte ich auch machen können.” — “Hast du aber nicht. Und weißt du was? Auch niemand sonst. Also, leg los, wenn du willst.”
Außerdem
My work
Ich bin am 18.4. auf dem All Ears Podcast Summit von Spotify auf einem Panel zum Thema AI und Medien – und auch sonst zugegen.
Ich habe mit dem MedienNetzwerkBayern über AI-Einsatz in Arbeitsprozessen gesprochen. mediennetzwerk-bayern.de
Ich habe diese (wie ich finde) recht gute kleine Story für BR24 recherchiert und geschrieben, in der ein Master-Bewerber von der TU München abgelehnt wurde, weil sein Stil den Prüfern zufolge ausschließlich durch AI-Tools hätte zustande kommen können – eine Entscheidung, die nun ein Gericht bestätigt hat. Abgefahrene Welt, in der wir leben. br.de
Der KI-Podcast, den ich für die ARD zusammen mit Marie Kilg und Fritz Espenlaub hoste, hat gut geliefert die letzten Wochen. Ich empfehle vor allem unsere Folgen zu AI-Agents und “Wie beweise ich, dass ich keine KI bin?”. Die Folgenlinks führen zu Spotify, Audiothek-Link hier: ardaudiothek.de
AI und Text / Large Language Models
Air Canada muss einem Kunden den vollen Rabatt gestatten, den ein Chatbot auf der Air Canada-Website dem Kunden versprochen hatte. Der Chatbot hatte wohl nichts mit generativer GPT-Technologie zu tun – das Urteil zeigt trotzdem: Externe Chatbots sind in der Praxis ein Risiko. vancouversun.com
GPT-4 hat diesem Paper zufolge eine Form des Turing Tests bestanden. GPT-4s Antworten sind in einem Persönlichkeitstest “statistisch ununterscheidbar” von einem zufälligen Menschen. Außerdem: GPT-4s Verhalten in strategischen Situationen ist kooperativer als das von Menschen. Menschen setzen auf sich selbst, die AI auf sich selbst und ihren Partner. pnas.org
After Breakups, the Brokenhearted Are Creating AI Clones of Their Exes. futurism.com
The Road to Honest AI. Ein technischer und spannender Blick auf LLM-Architektur. astralcodexten.com
Die Künstlerin Laurie Anderson sagt, sie sei besessen von einem Chatbot, der ihren verstorbenen Partner Lou Reed imitiert. theguardian.com
Der Move von Search zu Generativen Chatbots sollte aus Sicht der Medienbranche die wichtigste kommende Entwicklung sein. Eine Untersuchung beziffert die möglichen Verluste für die Branche auf 2 Milliarden Dollar jährlich. Die Zahl ist Spekulation, das Phänomen dahinter nicht. adweek.com
“Vanilla” als Sprachstil an Unis: Wenn Menschen reden wie ChatGPT. nzz.ch
Ein LLM mit einem “Inneren Monolog” gibt deutlich bessere Ergebnisse aus als eines ohne. livescience.com
AI und Arbeit
Die kommende Welt der “Über-die-Schulter-schauende-AIs” – am Beispiel von virtuellen Assistenten im Tennis. socialwarming.substack.com
Das eigenartige Phänomen der Meinungsexperten und Blogger, die kontinuierlich behaupten, Generative AI sei eigentlich wertlos, nutzlos, könne überhaupt nichts und die Industrie dahinter würde jeden Moment zusammen brechen. Normalerweise bemühe ich mich, Takes zu ignorieren, die offensichtlich nur von Wunschdenken zusammengehalten werden, aber hier ist eine schöne Zusammenfassung des Trends (mit Gegenrede). every.to
Ich liebe diese KI für Bäcker namens “Bäcker KI”. swr.de
Der Freistaat Bayern partnert mit Aleph Alpha, um Bürokratie in den Griff zu bekommen. br.de
Entwicklungen im Generative AI-Einsatz in amerikanischen Konzernen über die letzten Monate: Mehr Geld, mehr Modelle, mehr Open Source. a16z.com
AI und Bild/Video/Audio
Hollywood-Produzent Tyler Perry pausiert ein 800 Millionen-Dollar-Studioprojekt – wegen OpenAIs Sora. Hier geht es um mehr als nur diese eine Story – es geht darum, wie rapider AI-Fortschritt es zunehmend schwierig macht, für die Zukunft der Medien zu planen. hollywoodreporter.com
Wie woke ist Google Geminis Bildgenerierung? br.de
Über die gesetzlichen Regelungen zu Deepfake-Pornographie in Deutschland. internetobservatorium.substack.com
Die Inside-Story von Suno – “ChatGPT for Music”. rollingstone.com
Tinder macht Video-Selfies zur Pflicht, um AI-generierten Profilbildern vorzubeugen. petapixel.com
An AI-generated ad for cleaning wipes has driven the internet insane. nymag.com
AI und alles andere
China ist im AI-Wettstreit (noch) abhängig von den USA. nytimes.com
AI in a box (Rabbit, Humane Pin) won't end smartphones. blog.tobiasrevell.com
Vom Glauben an eine AI-Apokalypse, erzählt über die Menschen. theguardian.com
Erhellend guter Text über AI, Bewusstsein und den unheimlichen Grat dazwischen. theatlantic.com
Inventions hanging out. tiktok.com
Content
Wie die AfD TikTok nutzt. tiktoktiktoktiktok.substack.com
How the internet killed The Simpsons. thecritic.co.uk
TikTok-Livestreams sind eine sehr lukrative Quelle für Influencer, die sich von ihren Fans bezahlen lassen (nachdem TikTok 70% des Geldes abzweigt). abc.net.au
Das Problem mit Dating-Apps. npr.org
Gen Z broke the marketing funnel. voguebusiness.com
Wird MrBeast zu groß für YouTube? polygon.com
Wird LinkedIn die News-Lücke füllen, die Twitter und Facebook geöffnet haben? fastcompany.com
Eine erschöpfend ausführliche und auch sonst erschöpfende Timeline des Kate Middleton-Verschwörungstheorie-Desasters. garbageday.email
Autogenerating a Book Series From Three Years of iMessages. benkettle.xyz
Tech
Die profitable Welt von Digital Detox. maried.substack.com
Die profitable Welt von “Dream Machines”. maried.substack.com
Rechtliche Einordnung der Apple Vision Pro-Nutzung (darf ich damit in der Öffentlichkeit rumlaufen und Leute filmen?). ida.me
Dystopia
Ted Gioia präsentiert die (hoffentlich) düstersten Aussichten des Jahres: Unterhaltung wurde ersetzt durch Ablenkung, Ablenkung wird ersetzt durch Sucht. The State of the Culture 2024. honest-broker.com
72% der US-Teenager fühlen sich “friedlich” ohne ihre Smartphones. pewresearch.org
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