das ist gregor schmalzrieds newsletter über künstliche intelligenz.
ich bin freiberuflicher journalist, berater, speaker und host von der ki-podcast (ARD)
Web Zero
1 AI FIRST
Adrian Holovaty stand vor einem Rätsel.
Seit einigen Monaten häuften sich auf seiner Website seltsame Fehlermeldungen, wie er sie vorher noch nie bekommen hatte.
Holovaty ist einer der Köpfe hinter Soundslice, einem Musik-Tool, welches Fotos von Notenblättern digitalisiert, sodass man in Echtzeit damit proben kann.
Und vor kurzem fiel Holovaty auf, dass immer mehr Nutzer keine Fotos von Notenblättern hochluden… sondern Screenshots wie diese:
Das ist natürlich kein Notenblatt – sondern ein Gitarren-“Tab”, also eine einfache Methode, Gitarrenmusik aufzuschreiben. Soundslice war aber nur für Notenblätter ausgerichtet und nicht für Gitarren-Tabs. Also: Fehlermeldung.
Nur – warum kamen auf einmal so viele Nutzer auf die Idee, seine App für einen Zweck zu benutzen, für den sie gar nicht gedacht war?
Wie Holovaty in seinem Blog beschreibt, brauchte er selbst eine Weile, um die Lösung zu finden. Sie kam ihm eines Tages durch Zufall, in einem Gespräch mit ChatGPT.
Denn obwohl Soundslice die Funktion “Gitarren-Tabs hochladen” nicht unterstützte… ChatGPT behauptete das Gegenteil:
Das ist ein Screenshot von mir - in diesem Gespräch habe ich Holovatys Erlebnis selbst nachverfolgt – und tatsächlich: Wenn man ChatGPT nach der Funktion fragt, wird Soundslice empfohlen – obwohl das überhaupt nicht stimmt.
Oder ich sollte besser sagen: Obwohl das überhaupt nicht stimmte.
Denn in der Zwischenzeit hat Soundslice die Funktion “Gitarren-Tabs” tatsächlich gebaut und hinzugefügt. Nicht weil es so geplant war. Sondern weil ChatGPT der ganzen Welt erzählt hat, die Funktion wäre schon da. Und laut Holovaty war die einfachste Lösung für dieses Schlamassel, sie einfach wirklich umzusetzen.
Es ist vielleicht das erste Mal, dass eine Software ein Feature einführt, weil ChatGPT fälschlicherweise denkt, es würde bereits existieren.
Man kann diese Geschichte auf verschiedene Arten deuten:
negativ: Ein erster Schritt in eine dystopische Zukunft, in der fehlerbehaftete Bots entscheiden, was wahr ist und was nicht, und der Rest der Welt gezwungen ist, sich dieser “Wahrheit” zu fügen.
positiv: Ohne die ChatGPT-Empfehlungen wäre das Team von Soundslice gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass eine solche Funktion beliebt sein könnte. Die AI hatte quasi kostenlose Marktforschung für Soundslice übernommen und verweist nun viele Menschen auf die Website.
distanziert: Wir befinden uns an einem Wendepunkt der Machtdynamiken des Internets. AI ist nun ein Massenmedium mit entsprechender Wirkungsmacht. AI-Modelle werden zu neuen Gatekeepern. Alles wird anders.
Der heutige Newsletter dreht sich um letzteres.
2 WEB ZERO
Was ist noch gleich der Unterschied zwischen dem World Wide Web und dem Internet?
Normalerweise ist das nur eine Info für unnützes Pub Quiz-Wissen, aber für dieses Thema ist sie tatsächlich ganz interessant:
Das Internet ist das weltweite Netzwerk von Computern und Servern, auf dem alle Online-Services laufen (inkl Apps, E-Mails, Social Media, etc)
Das World Wide Web ist der Teil des Internets, der sich über individuelle Websites ansteuern lässt (alles was mit www. anfängt).
Das World Wide Web zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Link-basiert ist. Eine URL führt zur nächsten und der Nutzer klickt sich von Seite zu Seite durch. Meistens beginnt diese Reise auf einer Suchmaschine.
Auf dieser Basis haben ein Großteil der SEO-Branche, der digitalen Verlags- und Medienbranche, ein wichtiger Teil des E-Commerce und noch viele mehr ihre Geschäftsmodelle aufgebaut.
Hier eine krude Darstellung:
Dieses Modell steht nun unter Feuer. Immer mehr Menschen nutzen weniger klassische Suchmaschinen und mehr AI-basierte Tools wie ChatGPT. Die geben aber keine Liste von Links mehr aus, sondern direkt eine Antwort auf die gestellte Frage.
Google selbst hat darauf mit seinen “AI Overviews” reagiert, und zeigt nun bei vielen Suchanfragen selbst eine große AI-generierte Antwort an. Links zu anderen Websites folgen erst weiter unten und sind deutlich weniger sichtbar.
Ob man diese Entwicklung gut oder schlecht findet, kommt darauf an, in welcher Branche man ist.
Für Dienste wie Soundslice könnte sie (trotz der nervigen Fehler) insgesamt etwas Positives sein, weil AI-Modelle konkrete Websites und Programme viel besser empfehlen können als eine Linkliste nach einer Google-Suche.
Für die Medienbranche, die zu einem wesentlichen Teil von Klicks und den daraus resultierenden Werbeeinnahmen lebt, ist sie eine Katastrophe. Wenn mir ChatGPT bereits alles zusammenfasst, was ich wissen muss, habe ich keinen Grund mehr, auf der Originalwebsite nachzusehen. Der Klick bleibt aus, und damit auch die Werbe- oder Aboeinnahmen.
Wie SimilarWeb zeigt, suchen immer mehr Menschen mittlerweile über ChatGPT nach Nachrichten, die Zahl der Google-Anfragen bleibt flach.
Und die Google-Suchen, die übrig geblieben sind, führen immer seltener zu einem Klick auf eine weitere Website. Die Zahl der “Zero-Click-Suchen”, also der Suchvorgänge, die ohne einen einzigen Klick auf eine weitere Website beendet werden, ist rasant angestiegen.
The Verge-Chefredakteur Nilay Patel prägte für diesen Zustand letztes Jahr den Begriff “Google Zero” – den Moment, in dem klassische Suchmaschinen nicht mehr als nennenswerter Traffic-Treiber für digitale Geschäftsmodelle zur Verfügung stehen.
Die Idee des Web als vernetztes System vieler Websites mit Links, geht kaputt.
Das ist extra dramatisch, weil die Idee des Webs ohnehin angeschlagen ist. In den letzten fünfzehn Jahren haben Content-Plattformen wie Instagram und TikTok einen immer größeren Teil des Internets unter sich aufgeteilt. Hier spielt der Link schon lange praktisch keine Rolle mehr. Wer einmal auf der Plattform ist, bleibt auch drauf.
Für die meisten Leute sind sowohl ChatGPT als auch TikTok einfach zugänglicher als die klassische Suchmaschine. In beiden Fällen erhalte ich keine anonyme Liste von Links, sondern etwas, das (zumindest oberflächlich) persönlich ist.
TikTok erscheint persönlich, weil einem dort Influencer vorgaukeln, sie seien meine Freunde und könnten mir die perfekte Nahrungsergänzungsmittelkur empfehlen. Und ChatGPT erscheint persönlich, weil die AI sich viele kleine Datenpunkte über mich gemerkt hat und auf persönliche, direkte und natürliche Art und Weise antworten kann. Klassische Websites haben dagegen kaum noch eine Chance.
Der logische Endpunkt dieser Entwicklung wäre nicht einfach nur “Google Zero”, sondern “Web Zero”: Ein Internet, das ganz ohne Links und Websites auskommt und indem ich als Nutzer nur noch scheinbar direkte Kommunikation habe. Entweder, weil ein Influencer oder Podcaster scheinbar nur zu mir redet (parasoziale Beziehung). Oder, weil mein Roboterfreund Chatty tatsächlich nur mit mir redet (synthetische Beziehung).
3 FIGHTING BACK
“Web Zero” hat natürlich ein schwer auflösbares Problem. Wenn es kein Web mehr gibt, in das Leute Ideen und Informationen hineinschreiben, weil es sich überhaupt nicht mehr lohnt… Woher bekommt dann die AI ihre Daten?
Das macht klar: Das Internet ist zwar im Umbruch. Aber niemand weiß sicher, wie es am Ende dieser Entwicklung aussehen wird.
Immerhin wissen wir, dass auf einmal jeder mitreden will.
Eine Vielzahl von Unternehmen (darunter die AI-Suchmaschine Perplexity und sogar OpenAI selbst) arbeitet gerade an neuen Internet-Browsern, die das klassische Web mit modernen Sprachmodellen kompatibler machen (mehr dazu bei Marcel Weiß).
Der Web-Infrastruktur-Provider Cloudflare hat letzte Woche ein Konzept namens “Pay per Crawl” vorgestellt, nach dem AI-Crawler für ihren Besuch von Websites Geld bezahlen müssten. Eine Art AI-Maut für das Web, mit der gute Inhalte weiter ein Geschäftsmodell bleiben sollen.
Eine wachsende Zahl von Medienhäusern (darunter auch die ARD und die BBC) hat begonnen, AI-Agenten in den meisten Fällen von den eigenen Websites auszusperren.
Das hat jetzt schon Folgen: In meinen eigenen AI-Recherchen (etwa mit ChatGPTs Deep Research) fällt mir zuletzt immer öfter auf, dass relevante Quellen nicht berücksichtigt werden können, weil die AI nicht auf sie zugreifen kann. Das macht die Ergebnisse schlechter und sorgt dafür, dass man doch “klassisch” auf die originale Website klicken muss.
Der aktuelle Status Quo wird nicht ewig halten können.
Wie könnte also ein neuer aussehen? Am liebsten einer, der sogar etwas besser ist?
AI-basierte Systeme sind sehr gut darin, große Mengen Text und Daten zu durchsuchen, zu organisieren und zu verbinden.
Nur haben wir im Alltag noch nicht viel davon, weil die meisten Daten immer noch an unterschiedlichen Stellen liegen. Ich selbst habe über die letzten Jahre ein ziemlich großes und hilfreiches Archiv mit AI-Ressourcen und -Anwendungsfällen aufgebaut, das sich mit den richtigen Tools prima durchsuchen lässt.
In meiner perfekten Vorstellung könnte ich diese Daten und Ideen nicht nur mit den frei verfügbaren Informationen aus dem Internet verknüpfen (das geht heute schon recht gut), sondern auch mit den Archiven von Newslettern und Zeitungen, für deren Abo ich bezahle. Das würde nicht nur meine Arbeit leichter machen, es würde auch das Abo enorm aufwerten.
Irgendwann könnte das Ganze ungefähr so aussehen:
Natürlich werden nicht alle unsere Medien in Zukunft immer durch eine AI fließen. Ich möchte weiter Podcasts von richtigen Menschen hören, ich will echten Marken und Perspektiven folgen. Aber ich möchte auch, Wochen nachdem ich einen menschengemachten Podcast gehört habe, mein AI-System fragen können: “Hey, was war nochmal diese App, die Podcast-Host X vor ein paar Wochen in seiner Folge über Thema Y erwähnt hat?” (Oder von mir aus auch “Welches TikTok habe ich nochmal gesehen, in dem der Host die Geschichte von Z erzählt hat?”)
Darauf sollten wir uns zubewegen: Ein System, das meine persönliche Arbeit und Umgebung kennt, das in verschiedene Programme integrierbar ist und das auf die gleichen Informationen zugreifen kann wie ich als Mensch.
Das Schöne ist: große Teile dieses Systems lassen sich schon heute umsetzen. Rein technisch sind hier die meisten Probleme gelöst (leider noch nicht alle, siehe das Soundslice-Beispiel vom Anfang).
Das Internet umzubauen wird eine Mammutaufgabe und uns noch für Jahre, vielleicht Jahrzehnte, beschäftigen. Aber wer heute schon einen Geschmack dafür haben will, den hindert nichts daran, selbst mit einer kleinen Version davon loszulegen.
Die Zukunft des Internets kann ja auch anfangen mit der Zukunft des eigenen Google Drive.
Außerdem
Portfolio
Der KI-Podcast (ARD) auf Spotify. open.spotify.com
Der KI-Podcast (ARD) in der ARD Audiothek. ardaudiothek.de
AI und Text / Large Language Models
Forscher verstecken LLM-Prompts in Papern, um bessere Bewertungen zu erhalten. Schöner weiterer Datenpunkt zum Thema “Inhalte werden zunehmend mit AI-Modellen als Zielgruppe geschrieben”. the-decoder.de
Studie: KI-Modell »Centaur« sagt menschliches Verhalten voraus. heise.de
Grok stops posting text after flood of antisemitism and Hitler praise. theverge.com
I used o3 to profile myself from my saved Pocket links. noperator.dev
AI und Bild/Video/Audio
Call Center Workers Are Tired of Being Mistaken for AI. bloomberg.com
KI-generierte TV-Werbung auf Channel 4 in UK. dropmedia.co.uk
How a deepfake of Marco Rubio exposed the alarming ease of AI voice scams. fortune.com
AI und alles andere
‘Just put it in ChatGPT’: The workers who lost their jobs to AI. theguardian.com
Laid-off workers should use AI to manage their emotions, says Xbox producer. theverge.com
Using AI to rank New York restaurants by attractiveness of diners. looksmapping.com
Die EU hat einen freiwilligen Verhaltenskodex für den AI Act vorgelegt. heise.de
Fei-Fei Li: Spatial Intelligence is the Next Frontier in AI. youtube.com
The new movie about OpenAI’s Sam Altman sounds a lot like ‘The Social Network.’ Should he care? businessinsider.com
Tech
Frei empfangbare TV-Live-Streams aus der ganzen Welt. tv.garden
Kanye’s Nazi Song Is All Over Instagram. 404media.co
Miranda Kerr says Snapchat CEO Evan Spiegel ‘avoids screens at all times’. independent.co.uk
Frame of preference – A history of Mac settings, 1984–2004. aresluna.org
Don’t use “click here” as link text. w3.org
Side Quests
The Elite Overproduction Hypothesis. noahpinion.blog
The crab. samkriss.substack.com
Barry Can’t Swim & O’Flynn – Kimpton. youtube.com
Nuggets. youtube.com
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