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Virtuelle Popstars
Auf dem folgenden Instagram-Post sind zwei Personen abgebildet.
Rechts sehen wir den koreanischen Schauspieler Lee Jung-jae — aktuell der weltweit bekannteste Schauspieler seines Landes. Er hat die Hauptrolle in Squid Game gespielt.
Auf diesem Bild posiert er mit einer Influencerin namens Rozy.
Aber Rozy existiert nicht.
Rozy ist das bekannteste Projekt der Seoul-based Firma LOCUS-X — einer Art Content-Studio für virtuelle Influencer. Manchmal zeigen Rozys Posts eine komplett computergenerierte Person — manchmal werden Zwischenformen genutzt, etwa, um ihren virtuellen Kopf auf den Körper einer echten Person zu setzen. Natürlich ist es quasi unmöglich, einfach durch Hinschauen den Unterschied zu erkennen.
Für LOCUS-X ist Rozy eine fiktionale Persönlichkeit, um die ein Content-Imperium aufgebaut werden soll. Rozy tritt als Model auf, als Sängerin, und natürlich als Produkte-promotende Influencerin. Die meisten ihrer Follower wissen, dass sie einer Fake-Person folgen. Aber manche, so verrät dieser CNN-Artikel, folgen ihr auch erst, weil sie sich zu ihrem Aussehen und ihrer inszenierten Personality hingezogen fühlen — und entdecken erst später, dass diese angebliche Person überhaupt nicht existiert.
In Europe und den Vereinigten Staaten sind virtuelle Influencer immer wieder Medienthema — sie werden aber meist nach wie vor als obskure Phänomene wahrgenommen. Der Grund, warum FN Meka und Lil Miquela Schlagzeilen machen, ist immer noch, weil es in unseren Kulturkreisen immer noch ein eher bizarrer Gedanke ist, einer fiktionalen animierten Person zu folgen.
In Südkorea, Japan und China ist das anders. Virtuelle Influencer (oder “Meta-Influencer”) sind in der ostastiatischen Jugendkultur vielleicht noch nicht Mainstream. Aber in großen Teilen davon haben sie eine Nische gefunden, als akzeptiertes Content-Genre.
Der Business Case für virtuelle Stars ist relativ einfach erklärt: Die meisten Menschen haben die Promis, die sie verehren, nie in echt getroffen. Sie haben nie wirklich mit Harry Styles oder Taylor Swift interagiert. Warum sollte es für einen Star also notwendig sein, überhaupt einen Körper zu besitzen? Warum kann er nicht einfach als Konzept existieren — als körperloses Gespenst im Haunted House des Internets?
Rozy, Lechat, Apoki und andere virtuelle Stars sind für immer jung, für immer schön, für immer skandalfrei. Und dennoch schaffen sie es, eine Community um sich zu versammeln (Eric Dahan vergleicht in Ad Week diese Art von "Community ohne Person” mit einer Weiterentwicklung von Meme-Accounts, was vermutlich eine smarte Idee ist).
Anders als echte Menschen — so der Pitch — wechseln virtuelle Influencer auch nicht auf einmal zur Konkurrenz, sie verlassen nicht auf einmal das etablierte Skript oder ziehen Shitstorms auf sich. Sie bleiben immer so perfekt wie es der Algorithmus gerade verlangt. Es ist kein Zufall, dass viele Unternehmen, deren Geschäftsmodell aus dem Gamen von Social Media-Algorithmen besteht, nun ihr Glück mit virtuellen Influencern versuchen (anscheinend sogar die Firma hinter den unsäglichen “5-Minute-Crafts”-Videos).
Die Idealvorstellung aus Marketing- und Label-Sicht: Bald werden wir überhaupt keine Menschen mehr als Stars brauchen. Wir können sie einfach vom Computer bauen lassen.
Aber die Praxis sagt etwas anderes.
Sobald man virtuellen Charakteren genug Zeit und Raum gibt, ihre eigene Subkultur zu entwickeln, wird diese nämlich genauso messy und weird wie jede andere Kultur. Das sehen wir in Japan und China, und in der dort verbreiteten Szene der “VTuber”. VTuber sind im Wesentlichen das, was die obigen Beispiele für Instagram-Influencer sind, aber für Twitch-Streamer: Streamende Avatare also.
VTuber haben ihre eigene Szene, ihre eigenen Agenturen und Fan-Rivalitäten, und mindestens zweimal im Monat passiert um irgendeinen VTuber etwas völlig Abgefahrenes, z.B. dass eine virtuelle Streamerin auf ein Date mit einem Fan geht:
VTuber entstehen i.d.R. via Motion Capture — das bedeutet, sie werden von echten Menschen gespielt, deren Bewegungen und Worte von Computerprogrammen in die Bewegungen und Worte von animierten Figuren verwandelt werden.
Aus diesem Grund ist das Spiel mit Realität und Fiktion auch einer der faszinierendsten Aspekte an der VTuber-Szene. Manche, wie die virtuelle Streamerin CodeMiko, gehen offen mit der Entstehung ihrer Streams um und veröffentlichen sogar Behind the Scenes-Material, das die Realität hinter der animierten Figur zeigt. Andere Streamer halten ihr wahres Aussehen geheim, sodass Videos, in denen ein Programmfehler versehentlich ihr wahres Gesicht enthüllt, mittlerweile quasi schon Memes sind:
Zur Realität der virtuellen Streamer-Szene gehört auch ein Verständnis des Publikums, das hinter dem Werk echte menschliche Arbeit steckt und nicht einfach nur ein alleine handelnder Roboter mit dem Publikum interagiert.
“Das Wichtigste an VTubern sind die Leute dahinter, die menschliche Arbeit”, sagt der Hong Konger Forscher Yijun Luo dem Magazin Rest of World. Manche Fans bauen zu den Gesten und dem Habitus eines VTuber-Darstellers eine solche Verbindung auf, dass sie es sofort merken, wenn jemand anderes hinter der virtuellen Maske steckt — und ärgern sich über eine Neubesetzung genauso wie wenn der Lieblings-Superheld auf einmal von einem anderen Schauspieler gespielt wird.
Die Chancen stehen gut, dass virtuelle Popstars und Influencer auch in Europa und den USA bald eine größere Rolle spielen werden. Creatorinnen wie Poppy und Bella Poarch haben die Vorarbeit geleistet, und eine Ästhetik etabliert, in der echte Menschen sich selbst als roboterartige Aliens darstellen — und das auf möglichst attraktive Weise. In dieser Environment werden es echte virtuelle Figuren sehr viel einfacher haben, sobald irgendjemand rauskriegt, wie man Fake-Menschen für ein westliches Publikum richtig vermarktet.
Aber sobald dieses Rätsel gelöst ist und VTuber und Meta-Influencer auch bei uns angekommen sind, wird es wertvoll sein, sich an die chinesische und japanische VTuber-Kultur zu erinnern, und daran, wie wichtig der menschliche Faktor trotz allem Roboter-Hick-Hack noch ist.
Dass Menschen Popstars lieben, liegt am Ende eben nicht nur daran, dass sie hübsch aussehen und gut singen können. Es liegt auch daran, dass wir Geschichten über sie erzählen können, ob über ihren Aufstieg zum Erfolg oder darüber dass sie angeblich auf dem Filmfestival in Venedig Chris Pine angespuckt haben.
Es ist kein Zufall, dass das im westlichen Kulturkreis erfolgreichste Virtual Star-Projekt der VTuber-Ära wahrscheinlich K/DA ist - eine virtuelle Girl-Group, bestehend aus vier Charakteren des Videospiels League of Legends.
Alles an diesem Projekt ist mit Story aufgeladen, von den Backstorys der Charaktere über die Erfahrungen, die das Publikum schon beim Zocken mit ihnen gemacht hat bis dazu, dass ihre Stimmen von Popstars stammen, die direkt ihre eigenen Fangemeinden mitbringen. Bis auf die Ästhetik hier ist nichts virtuell — hinter allem steckt menschliche Arbeit und menschliche Skills. Deswegen gibt es auch so viele Möglichkeiten, mit der Band zu connecten. Und deswegen slapped der Song auch so.
Wir befinden uns in einem kulturellen Umbruch. Je wichtiger KI, AR, VR, Metaverse, virtueller Content, synthetischer Content, und so weiter werden, desto schwammiger und bedeutungslose werden diese Begriffe. Aber nichts davon wird den Rest der Popkultur einfach überschreiben.
Popstars werden in zehn Jahren immer noch nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden wie heute: “Sind sie interessant?“ und “Taugt die Musik was?” Bei beiden Maßstäben können all die oben genannten Begriffe helfen - wenn man weiß, wie man sie als Werkzeug einsetzt.
Aber ein rein virtueller Popstar, der aus der Maschine kommt und nur für die Maschine produziert, wird wahrscheinlich weiterhin chancenlos bleiben. Hoffe ich zumindest.
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