du liest cool genug — einen newsletter über digitale popkultur.
in meiner neuen brand eins-kolumne geht es um “proof of work” — wie er bei bitcoin funktioniert und wie er den rest des internets, vom instagram-algorithmus bis zum seo-ranking, prägt. nicht zum guten. ist ein guter text geworden!
Verschwörungsfandoms
I. Intro
Mein erster Kontakt mit Internet-Verschwörungstheorien war im Jahr 2009 in einem deutschsprachigen Forum für Harry Potter-Fans (mein zweiter Kontakt war ein Jahr später der Film Zeitgeist, like wers kennt).
Zwei Jahre zuvor war Harry Potter und die Heiligtümer des Todes erschienen, der siebte und letzte Band der Reihe. Das Buch war ein Triumph für die Harry Potter-Geschichte — bis zum heutigen Tag fällt mir keine andere Reihe ein, die über sieben Teile ein so konstantes Niveau halten konnte, trotz eines unfassbaren Erwartungsdrucks.
Aber nicht alle sahen das so.
Es gab eine kleine, aber präsente Gruppe von Leuten in meinem Harry Potter-Forum, die der Meinung waren, der letzte Band sei eine Katastrophe und ein Verrat an der Geschichte. Ihre Schlussfolgerung: Das Buch stammte überhaupt nicht von J.K. Rowling selbst, sondern von irgendwelchen Ghostwritern, die im Auftrag ihres Verlags handelten. User gingen so weit, alte Interview-Zitate von Rowling als Beweise anzuführen, die dem Inhalt von Heiligtümer des Todes scheinbar widersprachen, und schrieben Fanfictions, die einem “wahren” Ende der Geschichte näher kommen sollten.
Damals, vor dreizehn Jahren, fand ich das hauptsächlich weird. Heute, in unserer vollständig social-media-fizierten Welt, war es wie ein subtiler Vorbote auf das, was mit der Welt passiert, wenn sie immer mehr wird wie ein Harry Potter-Fanforum.
II. Verschwörungstheorien
In einer Verhaltensstudie im Jahr 2001 wurde mehreren Schimpansen dieselbe Aufgabe gestellt wie einigen Kleinkindern: Sie sollten einen L-förmigen Bauklotz aufrecht hinstellen. Der Bauklotz sah so aus, als müsse das problemlos möglich sein. Allerdings war darin ein kleines Bleigewicht versteckt, das dafür sorgte, dass der Klotz immer wieder umfiel.
Die Kinder in der Studie begannen schnell damit, den Bauklotz umzudrehen und zu untersuchen — wo lag das Problem, warum funktionierte es nicht?
Die Schimpansen taten das nicht. Sie versuchten einfach immer wieder, den Bauklotz aufzustellen, ohne sich damit zu beschäftigen, warum es nicht klappte.
Das Faszinierende an diesem Experiment ist, dass es möglicherweise einen der zentralen Punkte demonstriert, der den Menschen von seinem nächsten genetischen Verwandten, dem Schimpansen, unterscheidet:
Menschen sind völlig versessen auf Ursache und Wirkung.
Ursache und Wirkung sind der Grund, warum wir schon mit 5 Jahren instinktiv nach der Ursache für Probleme suchen. Warum Kinder die Welt über “Warum”-Fragen kennenlernen. Warum wir gerne Filme schauen und warum wir Filme schlecht finden, wenn wir die Handlungen der Hauptfigur nicht nachvollziehen können.
Nur ist unsere Welt viel zu komplex, um alles zu verstehen, das um uns herum passiert. Das ist keine neue Entwicklung, das war schon immer so. Aber das permanente Informations-Bombardement durch das Internet hat die Welt, die wir wahrnehmen, viel größer gemacht. Um alle Ursachen im Blick zu behalten, die die Welt bewegen können, müsste man Teilchenphysiker, Medizinerin, Volkswirt und dreitausend andere Dinge gleichzeitig sein und hätte immer noch nichtmal ein Prozent zusammen. Wir sind im Alltag also immer wieder gezwungen, den Blick zu Boden zu richten, zu akzeptieren, dass wir irgendetwas nicht verstehen und trotzdem versuchen, unser Leben zu leben.
Das fällt nicht immer leicht. Es ist viel leichter, an Verschwörungstheorien zu glauben.
Die Magie von QAnon und all den davon inspirierten Verschwörungsmodellen besteht darin, tausende scheinbar zufällige Datenpunkte in ein relativ simples Denkmodell vereint, in dem die Welt sehr viel einfacher zu verstehen ist. Auf den ersten Blick wirken moderne Verschwörungstheorien oft absurd komplex, aber das ist eine Illusion, die sich auflöst, je länger man sich damit beschäftigt. Letztlich machen Verschwörungstheorien die Welt immer einfacher als sie ist. Sie sagen uns: Diese eine Sache, die dir ein mulmiges Gefühl macht… Dein Gefühl liegt genau richtig.
Das Verführerische an Verschwörungstheorien ist, dass sie uns erlauben, unser selbstgebautes Modell der Welt nicht zu verlassen. Egal, ob wir schon immer das Gefühl hatten, dass diese ganze Klimawandel-Sache ja unmöglich so schlimm sein kann wie alle behaupten oder ob wir uns überhaupt nicht vorstellen können, dass unsere Lieblingsschriftstellerin ein Buch schreibt, das uns nicht gefällt… Die Verschwörungstheorien schützen uns davor, eine Welt mit komplexeren Ursachen und Wirkungen zu akzeptieren als die, an die wir uns gewöhnt haben. Sie ziehen uns die Bettdecke über den Kopf und beruhigen uns: “Alles ist so wie du denkst. Es gibt eine einfache Erklärung, warum der Bauklotz umfällt. Es liegt nicht an dir.”
III. Verschwörungsfandoms
Wenn in den Medien über Verschwörungstheorien gesprochen wird, dann meist über die großen: QAnon, Impfverschwörung, BDR GmbH, und so weiter… Verschwörungstheorien werden meist als Randphänomen dargestellt — als etwas, das viele Menschen betrifft, sich aber vor allem an irgendwelchen gesellschaftlichen Randphänomenen abspielt.
Wer viel Zeit im Internet verbringt, weiß, dass das nicht stimmt: Verschwörungstheorien sind überall, sie durchsetzen unseren Alltag, insbesondere dort wo eine Gruppe sich obsessiv mit einem Thema beschäftigt.
Nirgendwo sieht man das so gut wie in Fandoms.
Die Boyband One Direction war kaum älter als ein Jahr, als im Fandom das Gerücht aufkam, zwei der Bandmitglieder, Harry Styles und Louis Tomlinson, seien in einer heimlichen Beziehung miteinander. Die sogenannten “Larries”, die diese abstruse These vertraten, waren schnell ein organisierter Teil der Fangemeinde und konnten auf Anfrage dutzende Hinweise liefern, die ihre These belegten — darunter:
Die Anwesenheit von Teddybären in den Outfits berühmter Gay Icons auf der Konzertbühne
Zueinander passende Tattoos
Ein geheimer Farben-Code, in dem Styles die Farbe Grün und Tomlinson die Farbe Blau zugewiesen wird
Die Bedeutung der Zahl “28” in diversen One Direction-Produktionen, ein Hinweis auf Styles’ und Tomlinsons angeblichen Hochzeitstag am 28. September 2013
Als Louis Tomlinson im Januar 2016 Vater eines Sohnes wurde, entstand die Spin-Off-Verschwörungstheorie “Babygate” — nach der es sich bei der ganzen Geschichte um eine Fake-Story handele und Louis Tomlinsons angebliche Partnerin nie schwanger gewesen sei.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die “Larries” — eine Gruppe, die fast ausschließlich aus Mädchen und jungen Frauen bestand — mehr als fünf Jahre lang einen Kampf gegen die Realität geführt. Sie hatten Privatsphären missachtet, sie hatten unschuldigen Menschen nachgestellt, sie belästigt und bedroht.
Das alles war lange vor QAnon.
Und es hat nicht aufgehört.
Es gibt im Internet quasi kein Fandom, das nicht seine Erfahrungen mit Verschwörungstheorien gemacht hat.
Hier nur eine winzige Auswahl von ihnen:
Der Song “Checkmate” der K-Pop-Band ITZY ist nur ein Prank (mittlerweile debunked)
Warner Bros hat einen fertigen Director’s Cut des Films Justice League in der Schublade herumliegen und weigert sich ihn zu releasen (debunked, aber der Druck der Fans brachte Warner dazu, diese Version des Films nachträglich wirklich zu drehen)
Fandoms gewinnen seit Jahren immer mehr an Relevanz. Und sie sind für viele junge Menschen ein erster Einstieg in die Welt der Verschwörungstheorien.
IV. Fandom Politics
Wer in den Internet-Fandoms der späten 00er- und frühen 10er-Jahre aufgewachsen ist, der erkennt sie heute überall.
Man sieht sie in der Geschichte von /r/The_Donald — dem Reddit-Forum, das als ironischer Trump-Party-Place begann und in nur wenigen Monaten zu einem der wichtigsten Organe seiner Wahlkampagne wurde.
Man sieht sie in politischen Twitter-Beefs, in denen die Anhänger politischer Ideologien ihre Drükos und Drukos aufeinander loslassen wie in einem Streit zwischen Marvel- und DC-Fans.
“Fan Culture Is Swallowing Democracy” schrieb Amanda Hess in einem Text 2019 für die New York Times und fasste darin zusammen, wie die Präsidentschafts-Vorwahlen in den Vereinigten Staaten sich im Internet mittlerweile komplett nach den Regeln von Fandom-Streits abspielten.
In Südkorea ist man noch weiter. Dort gelten Fans, die in ihrer Freizeit Memes zur Unterstützung von Politikern erstellen, mittlerweile als anerkannter Public Relations-Arm der großen Politik. Ohne geht es kaum noch. Das Ganze nennt sich “Fandom Politics”.
Der Korea Herald zitiert den Medienforscher Kim Nae-hoon:
Fandom politics is when you keep adjusting your political views in line with the person you support
Kann man sich das vorstellen? Ein Weltbild zu haben, das so rigide ist, dass alles, was um uns herum passiert, in dieses Weltbild hineingequetscht werden muss — egal wie weit hergeholt die Erklärungen sein mögen?
Zwei Gruppen von Menschen können sich das sehr leicht vorstellen: Ultra-Fans. Und Verschwörungstheoretiker.
Als die südkoreanische Aktivistin Park Ji-hyun dieses Jahr ankündigte, für die Führung der Demokratischen Partei in Korea zu kandidieren, forderte sie Reformen. Ihre Partei müsse sich erneuern, sagte sie. So weit, so bekannt. Weniger bekannt (zumindest bisher) war der Schluss ihrer Rede: Unter ihrer Führung würde die Partei für ein neues Publikum stehen: “Für das Volk, nicht für Fandoms”.
Außerdem
Proof of Work. brandeins.de
Failure to cope “under capitalism”. gawker.com
Warum TikTok so interessant ist – und trotzdem ein Problem. spiegel.de
Werewolf erotica is the latest global gig work trend. restofworld.org
The Twitterification of TikTok. embedded.substack.com
The newsletter boom is over. What’s next? vox.com
The Cringe King of TikTok, 7 Weeks Later. vulture.com
Digital Technology Expands Options. digitalhope.substack.com
twitter is a collective hallucination. youtube.com
I joined Andrew Tate's cult and it was worse than I thought. youtube.com
I took Ninja's Masterclass and it ruined my life. youtube.com
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