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heute mit der ersten cool genug-theaterkritik. warum? cause i can.
The Burnt City und der Aufstieg des Surrealen
The Burnt City ist eine “Immersive Theatre”-Produktion über den Niedergang der Stadt Troja, die seit einigen Monaten im Osten von London aufgeführt wird. Das Ganze ist kein herrkömmliches Theaterstück — es gibt keine Bühne und keine Sitzreihen, überhaupt keine feste Trennung von Darstellern und Publikum. Stattdessen bewegen sich die Zuschauerinnen frei durch den Raum, ein gigantisches umfunktioniertes Industrie-Gelände mit unzähligen Gängen, Räumen und Verstecken.
Das Unternehmen hinter dem Stück heißt Punchdrunk, und hat sich auf diese Art von Theater spezialisiert. Ihre bekannteste Produktion ist Sleep No More, eine lose Adaption von Macbeth, die seit über 10 Jahren in New York aufgeführt wird und dort den Status einer Kult-Attraktion erhalten hat (sogar eine Folge Gossip Girl spielt dort).
Ich habe Sleep No More vor einigen Jahren und The Burnt City letzte Woche gesehen, und in beiden Fällen tue ich mich schwer, diese Stücke zu beschreiben… oder warum sie mich mehr bewegt haben als irgendeine andere Theaterproduktion, die ich je gesehen habe.
Es gibt jede Menge One-Line-Beschreibungen für das, was dort passiert. Über The Burnt City habe ich gelesen, es sei “wie eine Ballett-Aufführung im Berghain”. Ich sage gerne, es sei, “wie durch einen David Lynch-Film hindurchzugehen”.
Die Basics sind folgende:
Das gesamte Publikum trägt unheimliche vogelartige Masken, nur die Darsteller zeigen ihre Gesichter.
Man kann sich im Aufführungsgebiet frei bewegen, doch Licht, Sound und gelegentlich die Darsteller selbst schaffen es mühelos, das Publikum aus dem Weg zu schicken, beispielsweise wenn gleich mitten im Raum eine dramatische Kampfszene beginnt.
Die Stücke sind praktisch dialogfrei, nutzen aber Tanz, Dunkelheit, Stroboskop-Lichter, Nebel, laute Musik, Nacktheit, Kunstblut und — wie auf der Punchdrunk-Website zu lesen ist — “intense psychological situations”.
Am Interessantesten sind die Szenen, die sich abseits der größeren Zuschauer-Gruppen abspielen. Das Gelände (insbesondere von Sleep No More) ist so groß und desorientierend, dass man sich ständig darin verläuft. Ist man ganz alleine, kann man die detailverliebt eingerichteten Räume begutachten und (in einigen seltenen aber todesaufregenden Fällen) von Darstellern in 1-zu-1-Szenen hineingezogen werden, zu denen sonst niemand Zutritt hat.
Die meisten Darsteller bewegen sich in Loops. Das bedeutet, sie spielen die Ereignisse ihrer Rolle eine Stunde lang durch und bewegen sich anschließend zurück an den Anfang. Das kann dazu führen, dass man Figuren begegnet, deren Ermordungen man gerade noch miterlebt hat, was den Eindruck verstärkt, das man die ganze Zeit Geistern zusieht, die in der Unterwelt dazu gezwungen sind, immer wieder dieselben verfluchten Wege abzuschreiten.
So. Warum schreibe ich in einem Digitalkultur-Blog über ein Theaterstück?
Einmal haben die Stücke natürlich einen digitalen Fortsatz. Um Sleep No More ist über die Jahre ein engagiertes Fandom herangewachsen: Es gibt Leute, die teilweise bis zu hundertmal das Stück besuchen und in einem Sleep No More-eigenen Wiki die Geschichte jedes Charakter und jedes Raums analysieren.
Aber natürlich sind die Stücke selbst das komplette Gegenteil einer digitalen Experience. In einer Welt, in der Kunstprojekte immer wieder versuchen, klassische Kulturräume ins Digitale zu verfrachten, machen The Burnt City und Sleep No More das genaue Gegenteil: Smartphones und Fotos sind streng verboten und das Gelingen der gesamten Produktion fußt darauf, dass sich das Publikum physisch am selben Ort befindet wie die Darsteller.
Es mag an Covid-geschuldetem Kontaktentzug über die letzten zwei Jahre gelegen haben, aber als ich letzte Woche durch The Burnt City hindurchging, war ich geradezu besessen davon, die Sets zu berühren, die liegengebliebenen Papiere und Bücher, die aufgehängte Wäsche im Hinterzimmer, den Staub auf den Gläsern eines verlassenen Cafés. The Burnt City ist eine Erinnerung daran, dass bei aller sterilen Innovation in Mark Zuckerbergs Metaverse nichts die Realität schlägt. Dass es kaum etwas Gesünderes gibt, als die echte Welt zu berühren.
Und trotzdem: wenn man sich von diesem sehr elementaren Detail verabschiedet, dass man in The Burnt City die Welt um einen herum berühren kann, bietet das Stück faszinierende Anschlusspunkte an unsere digitale Welt im Jahr 2022.
Es ist nicht schwer, sich The Burnt City als Analogie zum Cyberspace vorzustellen — eine Welt, in der eine Masse von gesichtslosen Zuschauern dabei zusieht, wie einige schöne Darsteller im Scheinwerferlicht eine Show aufführen.
Auch das wir uns alle im selben Raum bewegen, derselben Geschichte zusehen, aber diese aus gänzlich unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven wahrnehmen, erinnert an Social Media. Wie jemand das Johnny Depp/Amber Heard-Verfahren wahrgenommen hat, ist zu großen Teilen davon abhängig, welchen Weg im großen verfluchten Haus des Internets wir gewählt haben, und was uns die Gänge und Räume dort zeigen.
Der gängige Genrebegriff für Stücke wie The Burnt City ist “immersives Theater”. Ein bisschen besser wäre vielleicht “exploratives Theater”. Denn es geht nicht nur darum, in der Mitte der Handlung zu stehen, es geht auch darum, dass diese Handlung sich in unserer Wahrnehmung verändert, je nachdem, wohin uns unsere Schritte tragen und welchen Figuren wir folgen. Es geht darum, ob nicht der Raum etwas mit uns macht, sondern wir auch mit dem Raum. Es ist der Unterschied zwischen einem 360-Grad-YouTube-Video (Quatsch-Trend von vor einigen Jahren, den niemand wollte) und Virtual Reality-Gaming (hat möglicherweise eine Zukunft, sobald die Brillen endlich besser aussehen).
Vor allem aber hat The Burnt City etwas verstanden, mit dem viele “Immersive Theatre”-Produktionen strugglen: Dass es nicht so wichtig ist, ob man etwas kapiert. Zwar gibt es eine, von griechischer Mythologie geprägte, Handlung — aber große Teile davon wird man wohl nur kapieren, wenn man das Stück fünfmal besucht.
Das kreative Team von Punchdrunk hatte rund um das Konzept eines Theaterraums mit völliger Bewegungsfreiheit eine elementare Entscheidung zu treffen:
Entweder man versucht, dem Publikum trotz dieser Freiheit die Handlung aufzuzwingen, lässt die Darsteller möglichst laut sprechen und Plotpunkte möglichst oft wiederholen, führt die Zuschauer in großen Gruppen umher und hat festgesetzte Checkpoints zur Reorientierung (Note: So sehen die meisten anderen “Immersive Theatre”-Produktionen aus).
Oder man geht in die komplett gegenteilige Richtung, ersetzt Dialoge durch stumme Lippenbewegungen und gestaltet das Stück so, dass das Enjoyment seiner Aufführung möglichst wenig damit korreliert, ob man eigentlich kapiert, was hier los ist. Vibe statt Plot.
Hilton Als schrieb 2011 für den New Yorker über Sleep No More:
Because language is abandoned outside the lounge, we’re forced to imagine it, or to make narrative cohesion of events that are unfolding right before our eyes. We can only watch as the performers reduce theatre to its rudiments: bodies moving in space.
Dieser Punkt, der undurchdringliche Surrealismus des Stücks, ist das, was beim Hindurchgehen so sehr an die Werke von David Lynch erinnert, und er ist auch das, was The Burnt City und Sleep No More ihre gegenwärtige Schärfe gibt.
Denn “narrative cohesion of events that are unfolding right before our eyes” suchen wir gerade vergeblich. Nicht nur im Theater. Sondern in unserem ganz normalen Alltag. Unsere Gegenwart ist geprägt von Krieg, Krisen und Culture War, und nichts davon scheint eine logische Folge von etwas anderem zu sein. Jeder neue Sturm der Entrüstung, jedes neue Spaltungsthema, jede neue Wir-werden-alle-sterben-Prophezeiung ist Teil davon und scheint doch völlig aus dem Nichts aufzutauchen, jenseits von Ursache und Wirkung.
Es gibt drei Möglichkeiten, auf das dystopische Chaos in unserem Alltag zu reagieren. Erstens, wir versuchen die Zusammenhänge zu verstehen, die unwichtigen Dinge zu ignorieren und an den wichtigen zu arbeiten. Zweitens, wir flüchten uns in Verschwörungstheorien, die finstere einfache Zusammenhänge erschaffen wo keine sind. Drittens, wir umarmen die Unerklärbarkeit unserer Gegenwart und betrachten die Welt durch eine Linse, in der Ursache und Wirkung keine Rolle mehr spielen.
Diese Linse ist der Surrealismus.
Oder warum sonst ist Junge-Leute-Kultur auf einmal so weird geworden?
Die Geschichten, Memes und kulturellen Einflüsse junger Menschen tragen zunehmend die Züge des Absurden und Surrealen: Drachenlord, Tiger King, Morbius-Memes… Es ist nicht mehr nur so, dass die ältere Generation die jüngere nicht versteht. Die jüngere versteht sich selbst nicht mehr.
I’ve similarly noticed Gen Z quietly raging against the madness of the world with content that is surreal, weird and oft-uncomfortable
schreibt die Analystin Victoria Buchanan in Matt Kleins Zine.
In today’s world – which is more and more complex and contradictory – surrealism seems to be resonating with Gen Z because it embraces all their contradictions instead of resolving them.
Auf diese Weise ist The Burnt City ein faszinierendes Abbild der Popkultur im Jahr 2022. Besessen von Immersivität und dem Sich-Verlieren in einer fremden, dem Untergang geweihten Welt… die zu verstehen sich niemand mehr Mühe gibt. Denn wir können die Welt nicht mehr verstehen. Wir können nur noch versuchen, sie zu erleben.
Außerdem
Ich habe eine True-Cybercrime-Doku fürs ZDF geschrieben. Es geht um den Hack der “DAO” im Jahr 2016 und die Visionen von dezentraler Machtverteilung im Internet. zdf.de
Die neue (bessere) Form von Product-Placements. youtube.com
Meine Fans gehören mir. sueddeutsche.de
I Hope The Summer Of Morbius Never Ends. garbageday.email
New York Restaurants Can’t Ignore TikTok Anymore. eater.com
Christian Schiffer: Live. Die. Repeat? Computerspiele und der Tod. youtube.com
Influencer Creep. reallifemag.com
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