du liest cool genug — einen newsletter über digitale popkultur.
in eigener sache noch dieser hinweis: ich schreibe ab sofort eine monatliche kolumne für brand eins. es geht um zukunftsthemen und technologie, manchmal ähnlich wie in cool genug, aber mehr durch die wirtschaftliche linse und weniger durch die kulturelle. die erste ausgabe — über ki-generierte grafiken von dall-e und anderen systemen — ist jetzt online.
on with the show.
Mentalhead
Das experimentelle Computerspiel Depression Quest aus dem Jahr 2013 zieht seinen Spieler in den Alltag einer namenlosen Hauptfigur, die unter Depressionen leidet. Das Spiel, das größtenteils aus Text besteht, stellt dar, wie die Hauptfigur sich an Lösungsansätzen versucht, Auswege erkundet, und es dennoch immer wieder nicht schafft, diesen auch tatsächlich zu folgen — was das Spiel dadurch darstellt, dass manche Links durchgestrichen und nicht klickbar sind.
Depression Quest ist ein Versuch, aus der abstrakten und individuellen Erfahrung einer psychischen Krise eine interaktive, nachverfolgbare Experience zu machen. Das Spiel wurde positiv besprochen, insbesondere für seinen informativen Charakter. Games-Kritiker Adam Williams schrieb 2014: “The experience is dark and compelling, but not really fun – it's certainly no Super Mario Brothers, but that's probably the point.”
Heute ist Depression Quest möglicherweise eines der einflussreichsten Spiele der jüngeren Geschichte — und das obwohl sich kaum noch jemand an das Spiel selbst erinnert. Es geht eher darum, was danach kam: Rund um Depression Quest und einige Publikationen, die das Spiel positiv besprochen hatten, entbrannte ein wütender Shitstorm. Grund waren in Gamingforen veröffentlichte Verschwörungstheorien, das Online-Magazin Kotaku habe dem Spiel nur deshalb eine positive Bewertung gegeben, weil Nathan Grayson, ein Journalist bei Kotaku, in einer romantischen Beziehung mit Zoë Quinn war, die Person, die Depression Quest geschrieben und entwickelt hatte.
Aus dieser Kontroverse entwickelte sich “Gamergate” — eine frauenfeindliche Hetzbewegung gegen eine angebliche feministische Invasion der Gamingkultur. Angetrieben von Verschwörungstheorien und reaktionärem Gedankengut wurden Journalisten und Gamedesignerinnen bedroht und massenhaft zugespamt. Gamergate, das seinen Höhepunkt im Jahr 2014 hatte, wurde später eine Blaupause für den Culture War von rechts — ein Schaubild davon, wie eine exzessive Outrage-Kampagne so viel Schaden anrichten kann, dass sie einfach durch rohe Posting-Gewalt politische Ziele erreicht.
Gamergate zeigte zum ersten Mal auf großer Skala, dass auch Posts und Memes gesellschaftlichen Schaden anrichten können, wenn sie mit einem klaren Feindbild einhergehen. In den Jahren darauf haben wir Echos von Gamergate in vielen reaktionären Internet-Kampagnen gesehen — darunter in QAnon und in der frühen Wahlkampagne von Donald Trump. Beide begannen nicht aus Zufall auf Kanälen, die für die Gaming-Kultur eine wichtige Rolle spielen: 4chan und Reddit. Steve Bannon selbst nannte “Gamergate” einmal als Beispiel für einen Anknüpfpunkt, über den junge Männer sich einer “Armee” anschließen können, die sich anschließend politischen Themen zuwendet.
So. Und das alles nur wegen… Depression Quest? All dieses Chaos und Leid wegen eines harmlosen Spiels, das dem Spieler einfach nur das Gefühl von Depressionen näherbringen möchte?
In gewisser Weise war Depression Quest natürlich nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Wenn es nicht dagewesen wäre, hätte vermutlich ein anderes Spiel als Buhmann für Gamergate herhalten müssen. Und doch war es dieses Spiel, und damit stellt sich die Frage: Was an Depression Quest war denn so progressiv, dass es eine so zentrale Rolle für einen reaktionären Backlash einnahm?
Der große Trend, den Depression Quest bespielt und der die letzten neun Jahre kulturell genauso geprägt hat wie Gamergate, nennt sich, grob zusammengefasst, “Mental Health Awareness”. Und der kommt nicht einfach aus dem Nichts. Denn — Surprise — wir befinden uns gerade in einer ausgewachsenen Mental Health-Krise unter jungen Menschen.
Laut der Trendstudie “Jugend in Deutschland” gibt fast jeder zweite zwischen 14 und 29 an, unter psychischen Belastungen zu leiden. Jeder vierte spricht von Depression, jeder vierzehnte von Suizidgedanken. In den USA sagen zwei Drittel der jungen Menschen, sie seien emotional erschöpft oder ausgebrannt, fast die Hälfte hat “oft” oder “die ganze Zeit” Angstgefühle.
Ergebnisse wie diese werden in den letzten Jahren immer wieder neu festgestellt und haben während der Corona-Lockdowns einen neuen traurigen Tiefpunkt erreicht. Besonders bitter: Praktisch alle Studien dieser Art zeigen, dass die Gefahr von mentalen Krankheitsbildern steigt, je jünger eine Person ist. Die ältesten Befragten, während dem Pandemie-Höhepunkt eigentlich am gefährdetsten, berichteten kaum von Belastungen. Bei den jungen waren es albtraumartige Zahlen.
Es gibt nicht nur einen Grund, warum es jungen Leute so schlecht geht. Der gesellschaftliche Umgang während Corona und von der Politik allgemein, Ängste über den Zusammenbruch von Klima- und Ökosystemen, die Gewissheit, bei der Zukunftsplanung rund um Rente und Alter vergessen werden… Take your pick.
Auch Social Media spielt eine Rolle. Wie groß diese ist, keine Ahnung, aber die großen Tech-Konzerne haben uns oft genug zu verstehen gegeben, dass sie das Risiko kennen. Instagram hat in internen Studien herausgefunden, dass sich jedes dritte Mädchen, das die App nutzt, deswegen schlechter fühlt. Es ist allgemein bekannt, dass kaum eine Menschengruppe so wenig Screentime erlaubt bekommt wie die Kinder von Silicon Valley-Chefs. Und als die chinesische Social Media-App Soul sich bei der amerikanischen Behörde SEC registrierte, schrieb sie über ihre Zielgruppe: “We have especially attracted young generations in China, who are native to mobile internet and who therefore more palpably experience the loneliness technologies bring”.
“Jungen Leuten geht es scheiße” ist also heute ein so offensichtliches Statement wie “Junge Leute haben Smartphones” und “Junge Leute hören Hip Hop”. Und deswegen ist Mental Health Awareness auch — so zynisch das klingt — ein Trendthema.
Immer mehr junge Menschen — sowohl mit als auch ohne psychische Krankheiten — machen sich aktiv Gedanken über ihre geistige Gesundheit.
Und Contentangebote, die junge Menschen ansprechen wollen, haben deshalb in den Jahren zwischen seit Depression Quest ein neues Makrothema gefunden: Gefühlsmanagement.
Spotify sortiert seine populärsten Playlist schon lange immer weniger nach Genre und immer mehr nach Moods. Playlists heißen “Feelgood Indie”, “Happy Hits” und “Serotonin”, aber auch “underneath my blanket castle”, “Life sucks” und “Alone Again”.
Der Instagram-Account @firstaidfilms empfiehlt Filme und Serien nicht nach Genre, Länge oder Darstellern, sondern nach den Gefühlen, mit denen sich der jeweilige Film auseinandersetzt. Findet Nemo: “Watch if you’re afraid to let your loved ones go”. Inception: “Watch if you get lost in your own memories”. Her: “Watch if you and your partner are growing apart”.
Das Mental Health-Startup BetterHelp war bis vor kurzem einer der prominentesten YouTube- und Podcast-Sponsoren, mit Werbeausgaben von 7 Millionen Dollar pro Monat. Das Startup verspricht, User mit einem “licensed therapist” zu connecten, was anscheinend nicht immer gut läuft.
Die KI-App Replika wurde Mitte der 10er-Jahre als experimenteller Chatbot entwickelt. Wirklichen Erfolg hatte die App, als sie sich selbst als “Your AI Friend” mit einem Mental Health-Dreh umbrandete. Heute ist sie ein kulturelles Phänomen.
Als die Familie von Charli D’Amelio, die zu diesem Zeitpunkt meistabonnierte TikTokerin der Welt, 2021 ihre eigene Reality-Show auf Hulu bekam, wurde schnell auffällig, dass sich die Show vor allem auf eine Sache konzentriert: Wie scheiße es Charli geht. Der Gen Z-Experte Rex Woodbury schreibt: “Viewing The D’Amelio Show, you begin to realize that it reads less like entertainment and more like an educational warning of social media’s toxicity. The show is a genre blend of drama, horror, and tragedy, shining a garish light on the strains of being a creator. In the first episode, Dixie has an emotional breakdown. Charli admits (far too casually) that she sometimes suffers 15 panic attacks in a day. Both sisters talk about having thoughts of self-harm, and their therapists make regular appearances on the show.” Das ist (leider) nicht unbedingt überraschend — dass junge Stars in der Entertainment-Branche leiden, hören wir nicht zum ersten Mal. Doch noch vor 10 Jahren hätten die Stars solche Dinge vor ihren Fans geheim gehalten. Heute ist es völlig normal, damit an die Öffentlichkeit zu gehen — die Transparenz wird vom Publikum sogar erwartet.
Dieses Überbewusstsein für Mental Health-Themen in den sozialen Medien ist natürlich vor allem eine gute Sache.
Der Reddit-Trendforscher Matt Klein schrieb kürzlich in seinem Newsletter:
I think another conflict of mine is how rare — yet so effective — “the person” is in our everyday discussions related to mental health. We speak of “generations” and “the crisis” — but in reality, it’s a me thing. And a you thing. Admittances tied to real names just hit differently. Maybe because it’s so rare? Hearing someone casually drop “my therapist” means so much. If you know, you know.
Relatability.
Anything to personify mental health, and make it feel less ethereal or generic. Faces, voices, confessions, and stories. Humanizing prevalence is so scarce. Anything to feel less alone.
This is something I continue to struggle with. Troubling inner experiences are already agonizing enough. Feeling like you’re the only one who’s ever felt this way is another beast.
Commonality.
45% of young people say hearing celebs or public figures talk about their struggles inspires them to improve their mental health. Just this year, we’ve already heard Naomi Osaka, Simone Biles, Prince Harry and Meghan Markle, and Demi Lovato speak up.
Der Punkt, an dem die neue große Mental Health-Sensibilität in schwieriges Terrain gerät, ist, wenn Depressionen und andere psychische Krankheiten als Lifestyle-Merkmale missbraucht werden.
Das lässt sich besonders mit Blick auf die Tumblr-Community zwischen 2011 und 2014 nachvollziehen — neben Gamergate das andere großen prophetische Internet-Phänomen der letzten zehn Jahre.
Tumblr — zu diesem Zeitpunkt der verschriene Erzfeind der 4chan-Kultur — war damals ein Tummelplatz für verlorene Seelen auf der ganzen Welt und nicht nur der Ursprung der modernen digitalen Wokeness, sondern auch von unserem heutigen Verständnis für Mental Health auf Social Media. Damals entwickelte sich eine Subkultur, in der psychische Krankheiten beinahe wie Eintrittskarten in den Club behandelt wurden — um cool zu sein, musste man irgendwie kaputt sein. Teenager versanken in Depression-Rabbit-Holes, in denen ihnen eingeredet wurde, Depressionen seien nichts was man bekämpfen sollte, sondern etwas identitätsstiftendes. Dieses Phänomen wurde 2016 in einem All-Time-Greats-Stück von The Ringer verewigt, welches voll ist mit Zitaten, in denen traurige Teens ihre Selbstdarstellung auf Tumblr selbst verurteilen. (“It became cool to define yourself by mental illness [on Tumblr],” Andrews said. “Like, in order to be interesting or valid, you had to have some kind of it.”)
(Dieses Phänomen wiederholt sich übrigens gerade teilweise auf TikTok unter dem “SadTok”-Banner.)
Es scheint ganz passend, dass ausgerechnet Depression Quest — das von der Gamergate-Szene strikt in die woke linke Tumblr-Ecke gedrückt wurde — überhaupt nichts mit dieser Interpretation von Depressionen zu tun hat. Das Spiel wirkt auf den Spieler gerade deshalb so frustrierend, weil sein Hauptcharakter sich weigert, etwas Besonderes oder Heroisches zu sein. Er ist einfach nur da — und kämpft damit, wie seine Welt eben aussieht. Mal besser, mal schlechter. Meistens schlechter.
Letztlich ist das Gute am Überthema Mental Health Awareness, dass es psychische Herausforderungen weder tabuisiert noch romantisiert. Es erkennt einfach nur an, dass sie da sind, und es im Zweifelsfall vermutlich eine gute Idee ist, sich damit zu beschäftigen. Wie genau man das macht, ist letztlich immer noch eine sehr individuelle Entscheidung. Aber wenn man will, muss man diese nicht alleine treffen. Denn das sind wir im Internet — ob wir wollen oder nicht — ja nie so ganz.
Außerdem
War das ein Mensch? brandeins.de
How Minions beat Disney at the copyright game. polygon.com
V-Tuber erklärt. youtube.com
A Buenos Aires hacker haven produced some of Argentina’s most valuable crypto companies. Then it suddenly disappeared. restofworld.org
The amateur investors ruined by the crypto crash. theguardian.com
Melbourne woman ‘dehumanised’ by viral TikTok filmed without her consent. theguardian.com
TikTok resists calls to preserve Ukraine content for war crime investigations. arstechnica.com
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