das ist gregor schmalzrieds newsletter über künstliche intelligenz.
ich bin freiberuflicher journalist, berater, speaker und host von der ki-podcast (ARD)
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Jemand sein, der Claude nutzt
1 NEON
Als ich etwa 15 Jahre alt war, war ich zum ersten Mal auf der Suche nach Coolness. Weniger nach coolen Dingen (so weit war ich noch nicht), sondern nach dem Konzept der Coolness selbst – der Konstruktion von diffusen sozialen Merkmalen, die im Auge des Betrachters unterscheiden, ob jemand cool ist oder nicht.
Einer meiner ersten Erfolge war diese Erkenntnis: Cool war es, die NEON zu lesen.
Die Kids auf meinem Schulhof sprachen natürlich nicht über die NEON (zumindest nicht während unserer Diskussionen über League of Legends und Batman). Ich stellte einfach einen vagen Vibe fest: Leute, die älter, intellektueller, interessanter, kulturell informierter waren als ich, das waren zufällig auch die Leute, die die NEON lasen.
Also begann ich selbst, die NEON zu lesen.
Die NEON (das muss man heute wohl leider erklären) war eine Millennial-Zeitschrift der 00er und frühen 10er-Jahre, bekannt für ihre Reportagen, Popkulturbeobachtungen und die “Unnützes Wissen”-Rubrik. Den Sprung ins Digitale Anfang der 2010er-Jahre bekam sie nie richtig hin. Die NEON starb. Heute taugt die Marke nur noch als Nostalgie-Thema bei Brunch-Gesprächen.
Es gibt vermutlich viele gute Gründe, warum die NEON als digitale Marke nie funktioniert hat – ich war nicht dabei, deshalb kann ich das natürlich schlecht einschätzen. Trotzdem habe ich eine Theorie, von der ich so überzeugt bin, dass mich alle anderen Faktoren (so richtig und interessant sie auch bestimmt sind) kaum interessieren:
Die NEON war nicht dafür da, gelesen zu werden. Zumindest nicht nur. Sie war dafür da, um beim Lesen der NEON gesehen zu werden. Man wollte nicht einfach die NEON lesen. Man wollte jemand sein, der die NEON liest.
Die grellen sexy Cover waren damit nicht die Verpackung des Produkts. Sie waren das Produkt selbst.
Im digitalen Zeitalter funktioniert das nicht mehr. Wenn man auf seinem Smartphone etwas liest, kann das ein schlaues Essay von Andrea Petkovic sein oder die User-Kommentare unter El Hotzo-Posts. Von außen sieht beides genau gleich aus. Möchte man die Menschen um sich herum darüber informieren, dass man etwas Interessanteres konsumiert, geht das eigentlich nur, indem man es ihnen ständig verbal mitteilt “Ich lese gerade einen interessanten Text von Andrea Petkovic” (oder ein Gerät kauft, welches das für einen tut, wie in diesem 11 Jahre alten “The Onion”-Sketch).
Digitale Inhalte taugen damit schlechter als früher zur sozialen Distinktion als ihre analogen Cousins. Und damit verlieren sie einen Teil ihres Werts. Gute Inhalte werden ein kleines Stück egaler. Klar kann man immer noch lesen, was man möchte, aber eine der Motivationen dafür, etwas Gutes zu lesen, ist angeschlagen. Und allein aus eigener Willenskraft nicht im Slop-Sumpf von Social Media zu versinken, ist deutlich schwerer, wenn niemand weiß, was man sich da gerade reinzieht.
In Benedict Wells’ Roman Vom Ende der Einsamkeit trifft die Hauptfigur eine dystopische Prognose (die Szene spielt im Herbst 2005):
Marty erzählte mir, dass man Bücher bald nur noch elektronisch lesen werde.
»Das ist doch Mist«, sagte ich, »auf diese Weise wird die Wirklichkeit ausgeleert. Bücher, Platten und Filme werden weggeworfen und in eine Welt hineindigitalisiert, die man nie betreten kann. Die Kinder der Zukunft werden nur noch in leeren weißen Zimmern sitzen.«
Die digitale Welt ist flach und farblos. Sie kann uns nicht umgeben. Sie schmückt nicht unsere Wände und Regale. Wir können sie nicht anziehen, nicht essen, keine Selfies darin machen.
Und damit fehlt ihr die Möglichkeit, als Distinktionsmerkmal zu dienen.
Der Entwickler und Substack-Autor “marcgmbh” schreibt in “Aspirational Software” (Kürzungen von mir):
Physical objects let us signal who we are and who we want to become. Why don’t my digital spaces reflect the same aspiration?
As distribution becomes harder and software becomes cheaper, identity becomes a key differentiator. The future belongs to tools that understand not just productivity, but identity and brand. Not just what we want to do, but who we want to become. Form over function.
Der Erzähler in Vom Ende der Einsamkeit und marcgmbh beschreiben das gleiche Phänomen. Nur sieht der Erzähler darin eine traurige Zukunftsvision. marcgmbh sieht darin eine Marktlücke für Venture Capitalists.
Und jetzt kommt Claude.
2 CLAUDE
Das Silicon Valley und die großen Tech-Konzerne unserer Zeit sind Meister darin, zugängliche und nützliche Produkte zu bauen.
Aber sie scheinen wenig Interesse daran zu haben, diese in interessante Marken zu verwandeln.
Das ist interessant, weil Marken sonst in unsere Welt eine sehr wichtige Rolle spielen.
Jeder 16-jährige kann erklären, dass Nike-Hosen etwas anderes aussagen als Hosen von Adidas, und viele können gleich nachlegen, warum Balenciaga quasi das Gegenteil ist von Bottega Veneta (obwohl beide zum gleichen Konzern gehören).
In der digitalen Welt ist das anders. Niemand weiß, was der Marken-Unterschied zwischen Uber und Bolt sein soll, zwischen Microsoft Azure und AWS. Das ist oft einfach nicht notwendig. Die meisten Silicon Valley-Apps konkurrieren nicht über Branding, sondern über Convenience, Funktion und Preis.
Doch der große AI-Boom ändert das – aus zwei Gründen (um den zweiten Grund geht es etwas weiter unten).
Der erste Grund ist: Auf einmal konkurrieren jede Menge Unternehmen mit Chatbot-Produkten, die sich von außen kaum unterscheiden und alle ungefähr das Gleiche kosten (siehe “Der große Trenner”). ChatGPT, Claude, Gemini, Copilot, Le Chat, Grok, … All diese Produkte unterscheidet was nochmal?
Anthropic, die Firma hinter Claude, hat eine unerwartete Antwort: Branding eben.
Anfang des Monats eröffnete Anthropic einen Pop-Up-Store in New York. Es gab gratis Caps, Bücher und Kaffee. Die Aktion – hier charmant nacherzählt von Anthropic-Mitarbeiter Sam McAllister – war ein Riesenerfolg.
Die Aktion ist ein Element von Anthropics breiterer Markenstrategie. Ein aktueller Anthropic-Spot, der Claude als “The AI for Problem-Solvers” anpreist, ist nicht nur für seine physische Ästhetik bemerkenswert, sondern auch dafür, wie wenig Raum die Computer im Spot einnehmen. Wir beobachten Tüftler, Forscher, Brainstormer… Die AI ist zwar mit dabei. Aber nicht der Hauptfokus. Es ist die Antithese zum “Slop”-Internet.
Die Message: Die AI soll dein Denken weiterbringen. Nicht durch ihr eigenes ersetzen.
Diese Kampagne ist enorm smart und es wundert mich überhaupt nicht, dass sie so gut ankommt. Denn während der Rest der Tech-Welt in seinen AI-Spots gerne andeutet, AI sei da, um sich das Denken abzugewöhnen (siehe Apple Intelligence is for the Stupid Ones), macht Anthropic das genaue Gegenteil: Die Firma schmeichelt ihren Nutzern, indem sie ihnen etwas zutraut.
Sogar im Produkt selbst findet sich dieser Ansatz mittlerweile. Seit dem neuesten Update Claude Sonnet 4.5 scheint Claude auf einmal deutlich bereiter zu sein, seinen Nutzern auch einmal zu widersprechen.
Das kann man als Nutzer nervig finden – aber zumindest ist es eine bewusste Abgrenzung von der Konkurrenz. Insbesondere ChatGPT hat nämlich mittlerweile den Ruf, seinen Nutzern grundsätzlich Recht zu geben und damit eher für schlechtere Ergebnisse zu sorgen. Dieses Phänomen, auch bekannt als “AI Sycophancy”, ist mittlerweile so groß, dass es vor zwei Monaten sogar in South Park verarscht wurde.
Das spannendste an Anthropics Positionierung ist wahrscheinlich, dass sie überhaupt passiert. Die AI-Welt ist mittlerweile so erwachsen, dass sich richtige Lager herausbilden. Botschaften. Kommunikation. Coolness.
Man muss Anthropic diese Kampagne nicht abkaufen. Und natürlich könnte man einfach behaupten, da drüber zu stehen. Das Tool wirklich als das zu betrachten, was ist ist. Und nicht als das, was es darstellt.
Aber so funktionieren wir Menschen nicht. Ich spüre auf einmal das gleiche Kitzeln wie bei der NEON vor fünfzehn Jahren.
Man will nicht einfach Claude nutzen. Man will jemand sein, der Claude nutzt.
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AT FREIBURG UND UMGEBUNG:
Am 25.11.2025 lese ich in der Buchhandlung Rombach, Freiburg aus meinem Buch und mache zusätzlich ein kleines interaktives Programm.
Ich freu mich übers Vorbeischauen!
mehr info hier
Außerdem
Termine
Ich bin in nächster Zeit als Speaker bei u.a. folgenden Events:
21.10. HEX Festival, Braunschweig. hexfestival.de
22.–24.10. Medientage München, München. Große Medienfachkonferenz zu Trends in Medien, Kommunikation & KI (über 100 Sessions). medientage.de
27.11. AI Media Leaders, Hamburg. nextmedia-hamburg.de
Portfolio
Der KI-Podcast (ARD) – der wöchentliche Podcast von Fritz, Marie und mir auf Spotify. open.spotify.com
Der KI-Podcast (ARD) – der wöchentliche Podcast von Fritz, Marie und mir in der ARD Audiothek. ardaudiothek.de
Ich empfehle besonders unsere aktuelle Folge “Was passiert, wenn die KI-Blase platzt?”
AI und Text / Sprachmodelle
ChatGPT Is Blowing Up Marriages as Spouses Use AI to Attack Their Partners. (Ich weiß ja ehrlich gesagt nicht, wie stabil eine Ehe ist, die von ChatGPT kaputtgemacht werden kann.) futurism.com
‘Existential crisis’: how Google’s shift to AI has upended the online news model. theguardian.com
No, ChatGPT isn’t ‘making us stupid’. transformernews.ai
China foes get worse results using DeepSeek, research suggests. tomshardware.com
Finding God in the App Store. „Faith-Tech“-Apps, deren Chatbots seelsorgerische Aufgaben übernehmen. nytimes.com
Designing agentic loops. simonwillison.net
Claude Sonnet 4.5 knows when it’s being tested. transformernews.ai
Practical tips for reducing chatbot psychosis. stevenadler.substack.com
These über perverse Anreizstrukturen sozialer Plattformen, die auch LLM-Ausgaben politisieren und verzerren können. socialwarming.substack.com
Why America Builds AI Girlfriends and China Makes AI Boyfriends. chinatalk.media
AI und Arbeit
We wanted to craft a perfect phishing scam. AI bots were happy to help. reuters.com
The algorithm will see you now. Radiologie als Testfall für AI-Jobentwicklungen. worksinprogress.co
OpenAI’s GDPval benchmark measures when AI can do your job. transformernews.ai
AI-Modelle bevorzugen AI-verfasste Bewerbungen. theregister.com
New data show no AI jobs apocalypse—for now (siehe auch dieser Newsletter neulich). brookings.edu
People are using ChatGPT like a lawyer in court — some win, some lose. nbcnews.com
AI-Generated Workslop Is Destroying Productivity. hbr.org
AI und Bild/Video/Audio
Meta’s AI glasses could mean more independence for the blind. cbsnews.com
Otto ersetzt Models durch KI. t3n.de
Casey Neistat über Sora. youtube.com
AI und alles andere
Kurzgesagt: AI Slop Is Killing Our Channel. youtube.com
The case for AI doom isn’t very convincing. understandingai.org
Rising AI demand is outpacing energy supply worldwide. restofworld.org
AI is opening a MAGA-Trump split. politico.com
AI is reshaping childhood in China. restofworld.org
OpenAI is huge in India. Its models are steeped in caste bias. technologyreview.com
When AI starts writing itself. transformernews.ai
Introducing Figure 03. Roboter! youtube.com
Content
Is TV’s Golden Age (Officially) Over? statsignificant.com
International Podcast Day: Wie geht’s der deutschen Podcast-Branche? beifahrersitz.substack.com
I bet you look good in my DMs. Der oben erwähnte gute Text von Andrea Petkovic! andreapetkovic.substack.com
CBS News was just taken over by a Substack. theverge.com
IKEA catalogues 1951–2021. ikeamuseum.com
Tech
Create a Phishy URL. phishyurl.com
Soziales Netzwerk mit Öffnungszeiten. seven39.com
What is a color space? makingsoftware.com
Side Quests
The Existential Heroism of the Israeli Hostages. theatlantic.com
Always invite Anna. sharif.io
(Financial Times). Bezahlartikel; Kontext: aktuelles Politik/Medien-Thema. ft.com
The strangest letter of the alphabet. deadlanguagesociety.com
Greenland is a Beautiful Nightmare. matduggan.com
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