du liest cool genug - einen newsletter über digitale kultur.
dieser post gärt in mir seit mehreren monaten, und anders als wein wurde er dabei nicht unbedingt besser.
du musst da jetzt leider trotzdem durch.
Das Schicksal ist eine miese Kryptowährung
Mein Name ist Gregor, und ich habe ein Geständnis zu machen.
Ich bin pro Krypto.
Das bedeutet nicht, dass ich glaube, dass Bitcoin den US-Dollar ersetzen wird, dass wir in Zukunft statt Unternehmen nur noch DAOs gründen, und dass eine Grafik eines hässlichen computergenerierten Affen wirklich mehrere Millionen Dollar wert ist. Und natürlich, der Kryptospace ist gerade voll mit unhaltbaren Prognosen, die im besten Fall absurde Träumereien sind und im schlimmsten destruktive Betrugsmaschen - ganz zu schweigen von all den handfesten Scams, die dort um sich greifen.
Aber ich halte es für plausibel, dass Kryptotechnologien (insbesondere Ethereum) im Internet der Zukunft eine wichtige, und möglicherweise elementare Rolle spielen werden. Und ja, das schließt all die oben erwähnten Instrumente - Kryptowährungen, DAOs und NFTs - mit ein.
Noch vor zwei Jahren hätte ich diesen Standpunkt für relativ absurd gehalten. "Krypto ist sinnlos/eine Lösung auf der Suche nach einem Problem/ein Schneeballsystem" war (und ist immer noch) eine weitverbreitete Ansicht zum Thema, der ich mich quasi default-mäßig angeschlossen hatte, ohne genau zu verstehen, warum.
Zwei Dinge haben sich seitdem geändert:
Die erste und relativ simple Veränderung hat Casey Newton, Autor des Newsletters Platformer und einer der scharfsinnigsten Experten für die Tech-Welt, vor einiger Zeit so beschrieben:
each year, the number of smart people I know who are developing on it goes up. With every month that goes by, a bet on the failure of Ethereum means betting against a growing number of talented people. The odds on that bet don’t feel great to me today — and they’re getting worse all the time.
Ich habe das Gleiche erlebt: Von all den Menschen, denen ich in Internetfragen vertraue, haben immer mehr über die letzten zwei Jahre die Chancen von Kryptotechnologie anerkannt: Casey Newton selbst, außerdem Internetqueen Taylor Lorenz, Internetkapitalist Packy McCormick, sowie mein Internetkollege Christian Schiffer, den ich hier nur abgesetzt erwähne, damit er sich über seine Inklusion in dieser Liste nicht totlacht. Aus purem Selbsterhaltungstrieb würde ich mir nicht anmaßen, mich gegen diese Leute zu positionieren.
Die zweite Sache, die sich geändert hat, ist etwas komplizierter.
Wir sind uns alle irgendwie einig, dass das Internet den Bach runtergeht. Noch 2010 war digitale Technologie ein spannendes Zukunftsthema. Heute ist sie ein konstanter Generator von Sorgen und Problemen. Die Argumente der großen Tech-Konzerne, warum sie der Welt angeblich mehr Nutzen als Schaden bringen, werden immer unglaubwürdiger. Und auch was Consumer Tech angeht, herrscht Resignation. Ich glaube, das einzige Mal, dass mich in den letzten Jahren eine Funktion eines technischen Geräts begeistert hat, war, als ich lernte, wie ich von meinem MacBook per AirPlay Filme auf meinen Fernseher streamen kann. Das war's. Welcome to the future.
Gleichzeitig gibt es immer wieder Versuche von tapferen Rittern des Cyberspace, das Internet zu verbessern. Die digitale Zukunft gerechter und gesünder zu gestalten. Ich kenne einige dieser Projekte, weil ich in meinen letzten vier Jahren als Netzjournalist über sie berichtet habe: Gobo Social - eine neue Form des Social Media-Feeds, die ihren Nutzern mehr Macht über ihre Inhalte geben soll. Das Fairphone - ein (fast) komplett nachhaltig produziertes Smartphone. DuckDuckGo und die vielen anderen Versuche, eine datenfreundliche Suchmaschine zu bauen.
Die Geschichte dieser ritterlichen Projekte ist immer die Gleiche: Eine große, gute Idee. Mediale Aufmerksamkeit, erste Achtungserfolge. Aber was ist das Endergebnis? Im besten Fall ein paar Promille Marktanteil. Im schlechtesten kompletter Flame-Out. Und nie irgendetwas, das das große Big Tech-System irgendwie in Gefahr gebracht hätte. Social Media-Algorithmen höhlen weiter die Demokratie aus, Smartphone-Lieferketten sind weiter von Menschenrechtsverletzungen abhängig und datenmäßig werden wir weiterhin durchleuchtet.
Die Fronten sind klar: Auf der einen Seite stehen die großen Konzerne und Hersteller, die dafür kämpfen, dass alles so bleibt wie es ist. Und auf der anderen Seite stehen die kleinen tapferen Rebellen, deren Versuche, den Tech-Giganten Konkurrenzvisionen entgegenzusetzen, allein schon daran scheitern, dass ihre Gegner innerhalb weniger Minuten so viel Geld verbraten wie die Rebellen-Seite in einem Jahr.
Zu welcher Resignation das führt, kann man gut mit Blick auf Europa beobachten: Gerade in politisch eher linken Kreisen ist schon längst jede Hoffnung fahren gelassen worden, Europa könnte den großen amerikanischen und chinesischen Konzernen etwas Konstruktives entgegensetzen. Die Big Tech-Konzerne werden hingenommen wie Naturkatastrophen, und niemand macht sich Illusionen, ein europäischer Konzern könnte je Google Konkurrenz machen. Stattdessen flüchtet sich Europa ins Krisenmanagement: Durch Regulierung, Verbote, Rechtsstreits.
Jetzt kommt aber Krypto ins Spiel (oder Web3, Blockchain, wie auch immer...). Denn Krypto macht tatsächlich ein Gegenangebot. Statt Regulierung, Verbote, Rechtsstreits wird eine konstruktive neue Idee geliefert. Und diese inszeniert sich - ähnlich wie die oben genannten Beispiele - als Antithese gegen Big Tech und andere große Institutionen. Die Erzählung lautet folgendermaßen:
Das Internet der Zukunft sollte nicht in den Händen einiger großer Konzerne liegen, sondern in den Händen von allen.
Nicht eine Handvoll CEOs sollte über die Protokolle und Standards des Web entscheiden, sondern dezentral organisierte Communitys.
Anstatt dass digitale Plattformen uns innerhalb ihrer Datenfestungen einmauern, sollten wir unsere digitalen Identitäten überallhin mitnehmen können - ohne uns dabei von der Datengunst eines Großunternehmens abhängig zu machen.
Und anstatt dass große Institutionen die Weltwirtschaft ausbremsen, indem sie für jede Kleinigkeit Provisionen und Macht verlangen, sollten monetäre Transaktionen und Verträge ohne Mittelsmann organisiert sein - ein smarter Vertrag genügt und regelt das von alleine.
Zu der Substanz dieses Versprechens schreien sich in dieser Sekunde weltweit tausende Menschen gerade gegenseitig an - und ich habe wenig Interesse, mich daran zu beteiligen. Aber: Rein vom Pitch her ist das kein schlechtes Versprechen. Und die Kryptofans sind in den letzten Jahren sehr viel besser darin geworden, das zu kommunizieren.
Das Beste daran ist aber etwas ganz anderes: Die Krypto-Erzählung des Internets der Zukunft ist nicht schlecht. Aber Erzählungen über die Zukunft gibt es wie Sand am Meer. Der Unterschied ist, dass Kryptoprotokolle so funktionieren, dass sie das Internet der Zukunft wie unerschlossenes Brachland zur Verfügung stellen - und Besitzrechte via Krypto-Tokens verkaufen, noch bevor wir überhaupt wissen, ob und wie dieses neue Internet kommt. Das ist der Grund, weshalb Menschen in Bitcoin, Ethereum und NFTs investieren: Sie kaufen nicht nur ein virtuelles Gut. Sie kaufen eine Parzelle der Zukunft. Glauben sie zumindest.
Das ist die Geheimwaffe, die den Kryptomarkt überhaupt erst handlungsfähig macht. Denn auf einmal haben die Kryptoleute etwas, das alle anderen Zukunftsvisionäre nicht hatten: Unmenschliche Mengen Geld. Klar könnte dieses System theoretisch jeden Moment zusammenbrechen. Und klar haben viele der großen Kryptoinvestoren eigentlich gar kein Interesse an der Zukunft des Internets, sondern vor allem an der Zukunft der eigenen Brieftasche. Aber sobald deren Geld einmal da ist, ist das auch irgendwie egal. Es ist wie bei dem Hype um die GameStop-Aktie: Unabhängig davon, ob die Leute die Geschichte glauben. Die finanziellen Mittel machen sie von ganz alleine real.
Diese Geheimwaffe ist nur dummerweise genau das, was der Krypto-Welt gerade die größten Probleme macht. Das Image der meisten Blockchain-basierten Projekte ist nicht sonderlich gut. Insbesondere NFTs, die in der Öffentlichkeit weniger in Form technischer Standards, sondern hauptsächlich in Form millionenschwerer blöder Affenbilder diskutiert werden, wecken den nicht ganz unberechtigten Vorwurf, die Kryptoszene sei in Teilen oder ganz eine Asset-Blase, ein Schneeballsystem, ein Pyramidenschema.
Der Twitter-Account Crypto Bros Taking Ls dokumentiert in eindrucksvoller Weise, wie schlecht es um das Image von Kryptotechnologien im Netz gerade bestellt ist. NFT-Käufer werden hier tagtäglich per Twitter-Ratio zur Lächerlichkeit verdonnert. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel zeigte sich, als die Social-Plattform Discord vor einigen Wochen einige Moves in Richtung Kryptosupport ankündigte. Es folgte ein Hagel böser Reaktionen, bis Discord die Ankündigung bis auf Weiteres zurücknahm. Es tobt ein Krypto-Culture-War. Oder sogar mehrere.
Das Ding ist nur: Integration von immer mehr Krypto-Anwendungen in unseren digitalen Alltag ist möglicherweise unaufhaltbar. Der neue Twitter-CEO ist ein erklärter Blockchain-Freak. Immer mehr Blockchain-basierte Anwendungen finden Aufträge in der "echten Welt". Und sobald es einem Unternehmen gelingen wird, Kryptoanwendungen für die Konsumenten so unsichtbar zu machen, dass die Funktion im Mittelpunkt steht und nicht mehr die Geschichte dahinter, spielt das Image von Krypto eh keine Rolle mehr.
Aber noch ist das eben nur ein Zukunftsszenario. Selbst wenn meine weiche Prognose zu Beginn dieses Texts zutreffen wird, und das Internet der Zukunft Kryptoanwendungen als selbstverständlichen Teil seines Ökosystems aufnimmt, müssen wir noch einige Zeit warten, um die Bestätigung dafür zu bekommen. Wenn wir über Krypto reden, sollten wir also nicht nur über Krypto als abstraktes System der Zukunft sprechen, sondern konkret die Ideen und Ökosysteme diskutieren, an denen gerade gebaut wird.
Ich habe letzte Woche den ersten Tag der 1E9-Konferenz verfolgt - eine Reihe von Panels, in denen verschiedene Krypto-Nerds sich auf beeindruckende Weise gegenseitig in ihren Visionen der Zukunft die Bälle zugespielt haben. Es ist erstaunlich, wie weit der Diskurs hier schon fortgeschritten ist - wie tief man in die Krypto-Welt eintauchen kann, und wie unterschiedlich die Stimmen dennoch klingen. Es ist ein verbrieftes Phänomen, dass der Kryptospace ein schwarzes Loch sein kann, aus dem jede Menge Leute nicht mehr wirklich rauskommen (oder wollen).
Und doch steht auf der anderen Seite eine breite Front von blanker, harter Ablehnung. Von Anti-Blockchain-Maximalisten, die sich nichts lieber wünschen würden als dass der gesamte Kryptospace morgen in Flammen aufgeht.
Beide Seiten verharren in ihren Festungen, aber zwischen ihnen steht möglicherweise ein Spielfeld, auf dem man sich tummeln kann, wenn man z.B. akzeptiert, dass 1. Krypto nicht alle Probleme der Menschheit lösen wird, aber auch 2. bestimmte Kryptoansätze zur Dezentralität durchaus ihre Relevanz und Berechtigung haben.
Journalist Nathan Baschez schreibt:
Some days I feel like the holy trinity of NFTs, DAOs, and DeFi might replace the very foundation that society rests on. Other days it feels like 90% vaporware and Ponzi schemes that collectively emit more CO2 than a medium-sized country. The challenge, as I see it, is to hold both of these ideas at once.
Die Lösung liegt darin, das Spielfeld dazwischen zu finden. Das ist vor allem deswegen wichtig, weil ein kritischer interner Umgang mit dem Kryptospace dringend gebraucht wird. Die dezentralisierte Lösung, in der die Menschen mit der höchsten Summe an Kryptowährung auch automatisch die mit der größten Macht über die digitale Infrastruktur sind, bringt jede Menge ganz neue Herausforderungen mit sich, die aktiv gestaltet werden müssen. Einfach von der Seitenlinie schimpfen und buhen wird dem nicht gerecht.
Gleichzeitig: So wie die Kryptoblase im Netz meist rüberkommt... Wer würde da ernsthaft behaupten, dass ein paar Buhrufe nicht irgendwie angebracht wären?
Das Geld ist da. Der Wille ist da. Web3 wird jeden Tag plastischer. Doch die größte Herausforderung für Krypto ist vielleicht gar nicht technischer Natur. Sondern, nicht für immer als die große Technologie der Unausstehlichen gebrandmarkt zu sein.
Wenn du Interesse an guten und sachlichen Erläuterungen zu den Chancen von Web3 hast, empfehle ich folgende Texte:
Außerdem
Mein obrig erwähnter Kollege Christian Schiffer hat vor zwei Wochen das beste deutschsprachige Portal für Videospielkultur gestartet - ein Bereich, für den ich tatsächlich einen blinden Fleck habe. Ich empfehle dringend, sich bei WASTED über alles zu informieren. wasted.de
Reise zum Mittelpunkt des Memes. mememanifesto.space
Queere Räume in Chinas Internet kämpfen gerade um ihr Überleben - und verlieren. restofworld.org
Wie der Aufstieg der Influencer Economy die Fotografie verändert. buzzfeednews.org
Ich bin jede Woche in zunehmender Ehrfurcht vor der Arbeit der Teams bei Walulis - aktuell ihre irre Aufarbeitung eines Trips des deutschen Parfum-Meme-Models Jeremy Fragrance nach Pakistan. Geopolitik trifft Influencer. youtube.com
Erschaffen Empfehlungsalgorithmen wirklich Neues - oder schieben sie uns nur in einen unendlichen Kreislauf von Vergangenem und Verbrauchtem? reallifemag.com
In einem Versuch, exakt die in diesem Newsletter beschriebenen Image-Probleme der Kryptowelt aufzuarbeiten, haben Kryptofans versucht, eine seltene Kopie der amerikanischen Verfassung zu ersteigern. Es war ein paar Tage lang ein sehr großes Thema. Dann gewann jemand anderes die Auktion. br.de
Spannender Selbstversuch: Was passiert, wenn man das langweiligste Facebook-Profil der Welt anlegt? Was für Content wird einem empfohlen? Und wie schnell wird es weird? theatlantic.com
Mal etwas sehr anderes: Die Autorin Jeanette Winterson hat auf ihrem Substack eine Nische mit technologie-inspirierten Horrorgeschichten gefunden - und sie sind alle großartig. Hier ist ihre aktuelle Geschichte über Virtual Reality und Geisterbeschwörungen: “The Old House at Home”. jeanettewinterson.substack.com
Die gute Seite
Aunty Donna ist ein australisches Comedy-Trio und der Urheber des einzigen Podcasts, von dem ich seit drei Jahren nicht eine Folge verpasst habe.
Vor ein paar Jahren haben sie den möglicherweise besten App-Werbespot aller Zeiten gedreht. Die Gagdichte ist so hoch, man fühlt sich beinahe angegriffen. Der nachträglich eingefügte Smartphone-Screen bei 0:31 ist nur eines von ca. zweitausend kleinen Highlights.
🌐,