ich würde gerne zum ersten mal in der cool genug-geschichte so etwas wie user-research betreiben.
deswegen wäre ich sehr dankbar wenn auf diesen link klicktest und eine einzige (!) frage beantworten könntest. :)
vielen dank!
Hauptcharakter-Media
In meiner Wohnung befinden sich aktuell drei Musikalben. Zwei von Radiohead, eins von Roosevelt.
Alle drei habe ich auf Vinyl über die letzten zwölf Monate geschenkt bekommen, das erste inklusive einem kleinen Plattenspieler (danke Andi!). Die Motivation dahinter: Die Alben stammen von Künstlern, die mir viel bedeuten. Radiohead ist seit über zehn Jahren meine Lieblingsband, Roosevelt (ein deutscher Indie-Synthpop-Dude) für mich die tollste musikalische Entdeckung der Pandemiezeit.
Trotzdem passiert es nur sehr selten, dass die Platten tatsächlich auf dem Plattenspieler landen. Natürlich. Musik einfach vom Telefon auf die Boxen zu schießen ist so viel schneller und einfacher als den Plattenspieler in Gang zu setzen. Was die Frage stellt, warum die Alben eigentlich da sind.
Einmal erfüllen die Schallplatten (und der Plattenspieler selbst auch) eine dekorative Funktion. Sie befriedigen mein kulturelles Sendungsbewusstsein, weil ich als Sklave meines sozialen Status vielleicht denke, dass es Leute cool finden, wenn sie in meine Wohnung kommen und einen Plattenspieler und ein paar Radiohead-Alben sehen.
Und zweitens ist es natürlich eine Möglichkeit, Künstlern, die mir viel bedeuten, indirekt Geld zuzuschießen. Der Kauf eines physischen Gegenstands öffnet einen vergleichsweise unkomplizierten Kanal zur Monetarisierung.
Aus der Sicht eines Zeitreisenden, der im Jahr 1980 von einem Wurmloch eingesaugt und vor meinem schallplattentragenden Wohnzimmerboard wieder ausgespuckt wurde, muss das alles furchtbar kompliziert und unlogisch klingen. In der seligen analogen Vergangenheit war der Deal bei Musik sehr simpel: Musik, die man hören wollte, hat man sich gekauft, so wurden die Künstler finanziert. Mehr Liebe für die Kunst → mehr Geld an den Künstler. Ta-da.
Heute funktioniert das anders. Spotify und andere Musikstreaming-Services zahlen nämlich Geld nicht nach “Liebe” aus, sondern ganz einfach danach, wie oft ein Song abgespielt wurde. Dieser auf den ersten Blick naheliegende Mechanismus, hat aber einen krassen Nebeneffekt: Er belohnt “Nebencharakter”-Musik und bestraft “Hauptcharakter"-Musik.
Die Begriffe “Nebencharakter” und “Hauptcharakter” sind in diesem Kontext sehr rudimentäre Versuche, zwischen zwei Sorten von Musik zu unterscheiden; nämlich zwischen Musik, die man nebenbei hört und die eher austauschbar ist, und Musik, auf die man sich konzentriert und mit der man sich emotional verbunden fühlt. “Nebencharakter”-Musik gab es schon immer, nur war es eher unüblich, dafür Geld auszugeben (man hörte sie eher im Radio). “Hauptcharakter”-Musik ist Musik, auf die man sich konzentriert, die man gesucht, mit der man sich bewusst beschäftigt hat. Kurz, Musik, für die unser 80er-Jahre-Zeitreisender liebend gerne Geld ausgegeben hätte.
Nur verbringen viele von uns deutlich mehr Zeit in ihrem Leben mit Nebencharakter-Musik als mit Hauptcharakter-Musik. Die Playlists, die wir beim Lernen oder Arbeiten im Hintergrund anhaben, können gerne im Loop laufen, wir merken es nicht einmal. Die Songs aber, denen wir uns am meisten verbunden fühlen, sind meistens nicht dafür geeignet, sie nebenbei laufen zu lassen. Niemand arbeitet gut zu Burn the Witch.
Das führt zu der absurden Situation, dass ein identitätsloser Lo-Fi-Dudel-Track wie thinking of you von “mommy” auf Spotify 60 Millionen Plays hat, der Radiohead-Song Daydreaming, der als Single-Auskopplung des letzten Albums A Moon Shaped Pool ein Fan-Favorite geworden ist und von Menschen auf der ganzen Welt erkannt wird, nur 57 Millionen. Es besteht keine Frage, dass letzterer Song viel mehr geliebt wird. Aber wenn Spotify die einzige Möglichkeit wäre, mit Musik Geld zu verdienen, dann hätte thinking of you trotzdem mehr Geld eingespielt als Daydreaming.
Dieses Phänomen beschränkt sich nicht auf Musik. Es scheint so, als sei es tief in die Monetarisierungs-DNA des Internets einprogrammiert: Nebencharakter-Media wird besser bezahlt als Hauptcharakter-Media.
Brian Morrissey beschreibt in diesem Text das Phänomen “Arbitrage media”: Website-Klickfarmen, die anders als traditionelle Verlage und Nachrichtenmedien ausschließlich auf schnelle Klicks aus sind und deshalb alles andere vernachlässigen.
Arbitrage media sites are far more usable and load far faster than so-called premium publishers with their autoplay video, pushdown ads and all manner of touts to subscribe, turn on notifications and sign up for yet another newsletter. It used to be the more premium the brand, the more premium the experience. The opposite holds true now. The interests of arbitrage publishers are to have sites load fast to stay on Google’s good side. Premium publishers, on the other hand, are trying to serve so many masters that they have inferior product experiences.
It used to be that the most glamorous brands were also among the most profitable. Nowadays the opposite is true. All the costly signals that were used to justify premium pricing have disappeared. Your legacy doesn’t help much when jousting in the search results. Your legacy won’t win against search authority.
Nachrichtenmedien versuchen, der Hauptcharakter-Falle entgegenzuwirken, indem indem sie Paywalls aufstellen. Private Creators flüchten hingegen immer öfter zu Modellen wie Patreon und leben davon, dass sie auf anderen Seiten so viel guten Willen bei ihren Fans aufgebaut haben, dass diese bereit sind, zusätzliches Geld auszugeben, um ihre Lieblings-Internetmenschen zu unterstützen.
Paywalls und Patreon fühlen sich aber immer noch an wie Work-Arounds — nicht wie organische Entwicklungen des Internets, sondern wie künstlich herbeigeführte Anbauten, um einige der schlimmsten Instinkte des Internets zu korrigieren. Denn sie ändern nichts an der grundsätzlichen Funktionsweise, wie im Internet Geld verteilt wird: Nach den schnellsten Klicks, der meisten Zeit und der einfachsten messbaren Einheit. Die Schallplatten in meinem Wohnzimmersich werden sich im Vergleich zum Musikkaufen in den 80ern immer unnatürlich anfühlen, und genauso wird ein Patreon-Abo bei einer YouTuberin nie so selbstverständlich sein wie der Kauf eines Buches, dessen Autorin ich mag.
Teilweise könnte sich das natürlich ändern. Viele große Plattformen experimentieren mittlerweile mit Abo-Modellen, die an das Substack-Modell erinnern. Und viele Projekte aus dem Web3-Space setzen genau da an, indem Kunst z.B. frei verfügbar bleibt, aber zusätzlich als NFT gekauft werden kann (irgendwo in diesem Feld habe ich kürzlich den Satz “We believe art should be free and it should be expensive” gelesen, ich weiß leider nicht mehr wo). In einem hypothetischen NFT-basierten Spotify, in dem alle Songs gratis sind aber gleichzeitig als NFT ersteigerbar, wäre zumindest Daydreaming sicher ein teurerer Song als thinking of you.
Aktuell versuchen Hauptcharakter-Medien dieses Problem aber vor allem auf andere Weise zu lösen: Indem sie ihr Einkommen analog generieren.
Musik bietet hier das perfekte VOrbild: Konzerte. Egal wie oft Lo-Fi-Playlists durchgeloopt werden, der Andrang bei einem Live-Auftritt von deren Urhebern bleibt überschaubar. Aber Hauptcharakter-Musik ist und bleibt ein Event — und wird zunehmen teurer. Auf dem aktuellen Album von Arcade Fire hat es bisher nicht ein einziger Song über 10 Millionen Spotify-Plays geschafft, aber im September kommen sie in die Münchner Olympiahalle und jede Menge Leute zahlen trotzdem 80 Euro pro Person, um da zu sein (unter anderem ich).
Auf ein ähnliches Prinzip setzt Disney: Ein Abo beim Streamingdienst Disney+ ist, gemessen an dem Geld, was in den Content hineininvestiert wird, spottbillig. Aber wenn deswegen genug Menschen Disney-Content schauen und weiterhin Elsa-Kostüme, Avengers-T-Shirts und Eintrittskarten fürs Disneyland kaufen, geht die Rechnung trotzdem auf.
Sogar das klassischen Verlagsgeschäft verlagert Digital-Fangemeinden in die Offline-Welt. Die Wochenzeitung Die Zeit veranstaltet seit Neuestem ein “Podcast-Festival”, was erstmal super random klingt, aber vor allem eine ziemlich clevere Methode ist, die ganzen Leute, die kostenlos Zeit Verbrechen und Die sogenannte Gegenwart hören, mal dazu zu kriegen, Geld dafür auszugeben.
Ist das die perfekte Lösung? Wahrscheinlich nicht. Physische Events sind meist lokal begrenzt, und nicht jede Medienmarke eignet sich, um ihren Namen auf Zeug draufzudrucken (der einzige Grund, warum es kein cool genug-Merch gibt). Vor allem ist es aber wieder nur ein Workaround — eine Methode, das Internet zu monetarisieren, ohne es direkt im Internet zu tun.
Aber das wird nicht immer so bleiben. Ich glaube, über kurz oder lang wird das Internet immer mehr Charakteristika der analogen Welt in sich verankern. Möglich, dass das, was dabei am Ende rauskommt, das Metaverse ist. Sicher weiß es natürlich niemand. Ich hoffe nur, dass ich, wenn ein Wurmloch mich ins klimawandelgeplagte Jahr 2050 beamen würde, die Monetarisierungsmaschen der Zukunft nicht noch dümmer finden würde als die der Gegenwart.
Außerdem
Ron Bielecki - Alkoholiker aus Leidenschaft (absurd, dass ich in diesem Newsletter noch nie ein Sashka-Video verlinkt habe, eigentlich könnte ich das in jeder Ausgabe machen). youtube.com
The Rise of the 0.5 Selfie. nytimes.com
Follower-Dilemma: Warum wir aufhören sollten, Fan-Zahlen wichtig zu nehmen. dirkvongehlen.de
(ich habe vor über einem Jahr mal einen ähnlichen Text geschrieben, der auch immer noch ganz gut ist: “Fast alle Zahlen im Internet sind wertlos. coolgenug.de”)Could TikTok Be A Search Engine? For Many Users, It Already Is. searchenginejournal.com
Inside the risky world of “Migrant TikTok”. restofworld.org
Das neue YouTube der EU. youtube.com
The Metaverse AND Diversity are our future - and I think that's beautiful. br.de
How Louis Theroux Became a ‘Jiggle Jiggle’ Sensation at Age 52. nytimes.com
After Crypto. fwb.help
Was steckt hinter dem KI-Chatbot "Replika"? br.de
The next big social platform is the smartphone’s homescreen. techcrunch.com
Web3's growing leftist subculture. dirt.substack.com
Those videos about a foot fetish site going viral on TikTok? A lot of them are sponcon. nbcnews.com
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