du liest cool genug — gregors newsletter über digitale popkultur.
Gras berühren
1.
Vor einigen Tagen wurde berichtet, dass Schauspieler Chris Evans (bekannt als Captain America) wohl seit etwa einem Jahr eine Partnerin hat: die Schauspielerin Alba Baptista. Außerdem wurde er gerade zum Sexiest Man Alive gekürt.
Gut für ihn!
Leider gibt es für Chris Evans auch schlechte Nachrichten. Ein Twitter-Fan-Account namens “Team Evans”, zum Zeitpunkt der Aufnahme mit 28 Followern, hat ein Hühnchen mit Chris Evans zu rupfen, und besagtes Hühnchen in einem extrem ausführlichen Twitter-Statement zusammengefasst.
Der Account, der im Namen eines nicht genau spezifizierten “Wir” spricht, wirft Evans vor, seine Fans getäuscht zu haben. Das Statement ist lang, wild und vollkommen absurd, und der Kern davon steht im fünften Absatz: “Your fandom is not upset because you’re in a relationship. Rather, it was the reveal of your relationship that made us feel betrayed by you.”
Man könnte es auch zusammenfassen mit “Wie kannst du es wagen, mir nicht zu verraten, dass du eine Freundin hast? Ich als dein Fan habe ein Recht darauf, das zu erfahren!”
Die Reaktionen auf den Tweet finde ich ziemlich spannend. Damit meine ich weniger die schiere Wucht der Clown-Emojis und Memes, mit denen sich Leute über diesen Tweet lustig machen (aktuell hat er nur 370 Likes, aber fast vernichtende 7.000 Drükos (Quote Tweets)), sondern vor allem, wie viele Menschen in dem Tweet ihr eigenes Fandom wiedererkennen.
Denn eins ist natürlich klar: Von einer realen Person zu erwarten, dass sie ihren Fans Rechenschaft über private Beziehungen schuldet, ist vollkommen Banane. Trotzdem scheint ganz Twitter schon einmal etwas Ähnliches erlebt zu haben. Leute erinnert die Geschichte an Fans von One Direction, an Fans von Lewis Hamilton, an Fans der K-Pop-Stars Sungmin und Chen. So gaga dieses Statement auch sein mag… beeindruckend ist es für kaum jemanden. “Feel like I read some variation of this weekly on K-Pop Twitter”, schreibt eine Userin. “It doesn't even cause me to break stride anymore.”
Ich bin anscheinend noch nicht ganz so abgebrüht wie Fandom Twitter und finde diese Geschichte noch ziemlich abgefahren. Vor allem, weil dieser Chris Evans-Tweet nicht nur das Kind einer einzigen abgefahrenen Sache ist, gleich zwei Dinge müssen zusammenkommen:
Jemand muss sich Chris Evans so verbunden fühlen, dass er/sie sich persönlich verletzt fühlt, wenn Chris Evans nicht öffentlich macht, dass er eine Freundin hat
Jemand muss es für völlig normal und okidoki halten, dieses Gefühl aller Welt mitzuteilen
Nummer 1 hat vor allem mit parasozialen Beziehungen zu tun (eines der ersten Themen, über das ich in diesem Newsletter geschrieben habe und dass sicher auch noch wiederkommen wird).
Aber Nummer 2 ist genauso interessant.
Wieso macht uns das Internet so bescheuert?
2.
Wir alle sind ein bisschen verrückt, wenn wir alleine sind.
Wir sprechen mit unseren Kuscheltieren, wir weinen, weil eine Serienfigur stirbt, wir gehen minutenlang nackt auf und ab, wir schmatzen. Klar, nicht alle Menschen tun diese Dinge, wenn sie alleine sind, und manche Menschen tun diese Dinge auch, wenn sie unter Leuten sind — aber im Schnitt wird ein psychisch gesunder Mensch diese Dinge häufiger alleine tun als in Gesellschaft.
Wenn wir unter Menschen sind, sehen wir nicht einfach diese Menschen, wir sehen uns vor allem selbst durch deren Augen. Sobald wir wissen, dass wir beobachtet werden, passen wir uns ganz automatisch an, wir wollen nicht auffallen, wir wollen “normal” wirken. Das sorgt für sozialen Druck, der natürlich oft schadet. Er hält aber auch eine Gesellschaft zusammen. Menschen finden es gut, wenn jemand sich in ihrer Gegenwart nicht so verhält, als wäre er alleine. Sich vor einem anderen Menschen nicht auszuziehen, ist ja irgendwie auch ein (sehr niedrigschwelliges) Zeichen von Respekt.
Und im Internet? Sind wir scheinbar immer unter Menschen.
Als vor 10 bis 15 Jahren die großen Social Media-Plattformen langsam Form annahmen, war viel Optimismus dabei. Facebooks frühes Mission Statement “give people the power to share and make the world more open and connected” fasst das gut zusammen: Wenn wir uns durch die sozialen Medien näherkommen, mehr miteinander kommunizieren, uns besser verstehen… Warum sollten sie der Welt nicht dabei helfen, besser zu werden?
Die Hoffnung war ein bisschen, dass wir uns im Internet — natürlich unter Facebook-Klarnamen — so behandeln, wie wir uns im analogen Leben auch behandeln würden: Mit Respekt. Und wenn wir das nur lang genug tun, auch bei Leuten, die ganz anders sind als wir selbst, haben wir gelernt, bessere und friedlichere Menschen zu sein.
Klingt ganz gut!
Hat nur leider überhaupt nicht geklappt. Das Internet hat die Probleme der Gesellschaft nicht erfunden, aber es hat viele von ihnen verschärft. Filterblasen, Spaltung der Gesellschaft, Desinformation, Hate Speech… Das digitale Horror-Karussel dreht sich schon eine Weile, ohne langsamer zu werden. Nur warum?
Ein großer Grund dafür ist, dass das Internet über eine ganz wichtige Sache anlügt. Wir fühlen uns vielleicht wie unter Leuten. Aber wir sind es nicht.
Wir sind völlig allein.
Jeder hat schonmal einen Menschen beobachtet, der sich mitten im Gespräch auf einmal seinem Smartphone zuwendet. Jeder kennt den glasigen Blick der völligen Abwesenheit. Jeder weiß, jetzt mit diesem Menschen zu sprechen, ist vollkommen sinnlos. Es wird nicht funktionieren. Er ist woanders.
Und jeder war selbst einmal dieser Mensch, gefangen in einer unangenehmen oder langweiligen Situation, todesdankbar darüber, im Smartphone verschwinden zu können. Während eines langen unangenehmen Gesprächs das Telefon zu öffnen ist nicht weniger als absolute Wellness für den Kopf, die Welt um einen herum verschwindet, alles wird leicht, weniger anstrengend und okay.
Warum? Weil wir, sobald wir das Telefon aufgemacht haben, endlich wieder alleine sind. Unser physisches Selbst lassen wir zurück und verschwinden im Digitalen unter tausenden anderen digitalen Gestalten.
Unsere digitalen Abbilder haben keine Mimik und Gestik, die sie kontrollieren müssen. Sie müssen nicht darauf achten, ob sie nackt sind oder nicht, ob sie schmatzen oder sich in der Nase bohren… Und das gilt für alle anderen genauso.
Wenn wir im Internet mit anderen Menschen kommunizieren (insbesondere in textbasierten Medien wie Twitter und Kommentarspalten), nimmt unser Gehirn diese nicht als andere Menschen wahr. Wir sehen sie genauso anonym und gesichtslos wie uns selbst, sie sind Nullen und Einsen, schwarze Buchstaben vor einem weißen Hintergrund. Keine Anti-Hass-im-Netz-Kampagne der Welt kann unser Gehirn davon überzeugen, dass wir gerade mit einem echten Mensch kommunizieren — weil diese Interaktion nichts mit dem zu tun hat, was ein Gespräch mit einem echten Menschen eigentlich auszeichnet. Man kann im Internet nicht lächeln. Man kann nicht die Stirn runzeln. Und vor allem kann man sich nicht schämen.
Wir sind wie Autofahrer, eingeschlossen in massive Blechkästen, vollkommen abgetrennt von der Außenwelt. Und auf einmal fangen wir an, Leute auf der Straße zu beschimpfen, denen wir das niemals ins Gesicht sagen würden. Warum? Weil wir uns alleine fühlen. Weil wir es sind.
3.
Das Internet ist eine Flucht vor der Realität. Aber es ist auch eine Flucht vor menschlicher Gesellschaft. Es ist ein Ort der Einsamkeit. Und Einsamkeit kann verführen.
Wenn wir uns der Verführung zu oft und zu sehr nachgeben, hören wir irgendwann auf, das Internet als Flucht vor der Realität wahrzunehmen. Wir sehen darin die Realität selbst.
“Solitude is dangerous”, sagte der Schauspieler Jim Carrey. “It’s very addictive. It becomes a habit after you realise how peaceful and calm it is. It’s like you don’t want to deal with people anymore because they drain your energy.”
Ist es ein Zufall, dass die Generationen, die im Zeitalter des Internets erwachsen wurden, viel einsamer sind als die Generationen davor?
4.
Tausenden von Menschen zu erzählen, man wäre einsam, war in der Geschichte der Menschheit noch nie möglich — bis zu den sozialen Medien.
Jetzt passiert es alltäglich.
Das Internet bietet uns eine Fake-Gesellschaft, Fake-Sozialverhalten. Und weltweit gibt es Menschen, die zunehmend Zeit in dem geisterhaften Internet-Abbild einer sozialen Gesellschaft verbringen und weniger in seinem real existierenden Vorbild.
Wie ein Autofahrer, der auf der Autobahn über andere Leute schimpft, öffnen Menschen sich jeden Tag der ganzen Welt. Sie posten alles, was ihnen in den Sinn kommt, in der wärmenden Einsamkeit des Internets. Und einige von ihnen verlassen diese Einsamkeit wenig bis gar nicht.
Natürlich führt das zu absurden Ereignissen.
Es führt zu Rainer Winkler aka Drachenlord, der sein komplettes Sozialleben geopfert hat, um seit fast zehn Jahren für einen Hate-Mob zu streamen.
Es führt zu einem Menschen, der das Erbe seiner Großmutter Stück für Stück an eine Twitch-Streamerin verschenkt, die gerade so weiß, dass er existiert.
Es führt zur Prägung des Wortes “Friend Simulator” für Video- oder Podcastformate, die sich beim Anhören anfühlen, als hätte man echte Freunde.
Es führt zum Phänomen der “hikikomori”, ein Begriff für eine halbe Million junge Japaner, die kaum oder gar nicht ihr Haus verlassen und komplett in Medien versinken.
Und es führt dazu, dass jemand auf die Idee kommt, es wäre vollkommen normal, sich ausführlich bei Chris Evans darüber zu beschweren, dass er einem nichts von Alba Baptista erzählt hat.
5.
Es gibt ein beliebtes Meme, das oft als Reaktion auf besonders abstruse einsamkeits-getriebene Internet-Takes rausgekramt wird. Man gibt diesen Leuten nämlich einen gut gemeinten Ratschlag. Sie sollen einfach einmal “Gras berühren”.
Die Person, die böse auf Chris Evans war, ist ein prima Beispiel für eine Person, die schon länger kein Gras mehr berührt hat aka schon zu lange nur im Dampf ihrer eigenen Gedanken sitzt (daher auch das Alternativmeme “Mach mal Fenster auf Kipp”).
“Gras berühren” ist tatsächlich ein ziemlich guter Ratschlag — wahrscheinlich sogar, wenn man ihn wörtlich nimmt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es eine Schnittmenge gibt zwischen den Leuten, die öfter literally Gras berühren und den Leuten, die im Social Web nicht ihren sozialen Kompass verloren haben.
Ich habe Journalist und Freund Titus Blome, der auf Twitter circa fünfmal täglich Leuten rät, Gras zu berühren, dazu konsultiert:
Das Schöne daran: Es bedeutet, dass “Berühre Gras” von all den fiesen Sachen, die man anderen Leuten im Internet sagen kann, quasi eine der nettesten ist.
Wenn man beim nächsten Mal über jemanden stolpert, der offensichtlich jeden Bezug zur Realität verloren hat, kann man ihm das raten, was auf Twitter sonst üblich ist, nämlich sich umzubringen. Man kann aber auch anerkennen, dass wir alle mit dem gleichen Bullshit zu kämpfen haben und dass das Internet uns alle ein bisschen verrückt macht, wenn wir nicht aufpassen. Und ihm einfach nur raten, mal den eigenen Kopf zu verlassen.
Wer Gras berührt, ist weniger allein.
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