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Die Zukunft ist Fyre
Das Fyre Festival war eine der besten Stories der letzten Jahre: Ein Haufen amerikanische Rich Kids zahlen Millionen Dollar für Tickets zum exklusivsten und besten Musikfestival aller Zeiten — das Fyre Festival, ein “immersive music festival … on the boundaries of the impossible”, ausgerichtet auf einer tropischen Insel.
Doch als sie ankommen, ist das “Festival” ein einziges Desaster. Sämtliche Musik-Acts haben abgesagt, die versprochenen Luxus-Unterkünfte entpuppen sich als verdreckte Zelte mit durchnässten Matratzen, statt Gourmet-Küche gibt es labbrige Käsebrötchen und nach nur einer Nacht wird das Event abgebrochen. Die kurze Zeit hat jedoch ausgereicht für Berichte über Diebstahl, Plünderungen und allgemeines Chaos.
Das Fyre Festival wurde zu einem solchen kulturellen Event, dass es zu einem geflügelten Wort geworden ist — das Anti-Woodstock.
Alles — vom Burger bis zur Impfstrategie — hat mittlerweile seinen eigenen Fyre Festival-Moment erlebt:
Liest man diese Headlines, könnte man auf die Idee kommen, dass Fyre Festival sei eben einfach eine sehr sehr schlechte Party gewesen. Aber: Das Fyre Festival als Synonym für “irgendein Desaster” zu benutzen, greift zu kurz. Denn das Fyre Festival war ein sehr spezifisches Desaster:
Das Fyre Festival war der Versuch, digitalen Glamour in die analoge Welt zu bringen.
Nichts zeigt das so klar wie der originale Fyre Festival-Trailer, der von der berüchtigten New Yorker Agentur fuckjerry produziert wurde. Er zeigt Supermodels am Strand der Insel, auf der das Festival stattfinden soll. Bikinis, Cocktails, Jetskis. Wäre nicht ab und zu Konzert-Stock-Footage dazwischengeschnitten, man hätte keine Ahnung, dass diese Bilder ein Musikfestival bewerben sollen.
Und dann ist da der Werbetext, der “Two transformative weekends” verspricht, “on a remote and private island in the Exumas … once owned by Pablo Escobar”.
Dieses Event soll sich anfühlen wie ein Realität gewordener Influencer-Post auf Instagram.
Genau da lag auch die Expertise der Veranstalter. Das Fyre Festival wurde von Leuten organisiert, die jede Menge Ahnung von Glamour, Fame und Image haben — alles Dinge, mit denen man es auf Social Media weit bringen kann.
Nur… Um ein erfolgreiches Festival zu organisieren braucht es weniger Ahnung von Glamour, Fame und Image, sondern vor allem von Logistik, Veranstaltungsmanagement und Abfallwirtschaft. Und all das war den Veranstaltern ziemlich wurscht. Die legendäre Fyre-Promo-Kampagne, an der sich auch Weltstars wie Kendall Jenner beteiligten, wurde im Dezember 2016 veröffentlicht — ein halbes Jahr vor dem Festivaltermin. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal klar, wo das Fyre Festival überhaupt stattfinden würde. Die Veranstalter schafften es erst zwei Monate vor dem Event, eine Location klarzumachen — die dann weder remote, noch private, noch je im Besitz von Pablo Escobar war.
You get the idea.
Und damit kommen wir einem Fyre Festival-Nachahmer, der den Namen wirklich verdient hat:
Cryptoland ist ein Projekt, das die Frage stellt: “Was, wenn die größten und reichsten Kryptowährungs-Fans der Welt sich ein Paradies auf einer tropischen Insel schaffen würden?” Und dieser Satz — so schlimm er auch klingt — fasst noch nicht einmal im Entferntesten zusammen, wie absurd dieses Ding ist.
Ich kann dich nur anflehen, die Cryptoland-Präsentation in ihrer ganzen Pracht selbst zu genießen, inklusive der animierten Musical-Nummer.
Das hier verlinkte Video ist ein Reupload, da das Original mehrfach von YouTube getilgt wurde. Sollte das hier auch offline gehen, werde ich es in der Text-Version auf coolgenug.de mit einer Alternative aktualisieren.
Die grobe Idee des Projekts ist: Gemeinsam können jede Menge Krypto-Fans sich eine eigene Insel kaufen, diese in einen globalen Startup-Hub verwandeln und von Stund an im Paradies auf Erden leben, wo man keine fünf Meter gehen kann, ohne auf einen Krypto-Insider-Witz zu stoßen (das Video oben ist zum Bersten voll damit, und dabei kann ich nur über die sprechen, die ich verstanden habe).
Seit die Cryptoland-Präsentation vor einigen Wochen viral gegangen ist, haben Leute mit Ahnung das Projekt in brutalster Weise zerpflückt. Die meisten davon hat Molly White in einem sehr unterhaltsamen Twitter-Thread zusammengefasst… U.a., dass die Insel mitten im Wirbelsturm-Gebiet liegt, es keinerlei Pläne für Brand- oder medizinische Notfälle gibt und die Herausforderungen für die Sanitäranlagen wohl unlösbar sind. Und das alles setzt voraus, dass der Plan, das Geld zusamenzubekommen, überhaupt funktioniert.
Die Chancen, dass Cryptoland überhaupt soweit kommt wie das Fyre Festival (d.h. dass tatsächlich “Gäste” dort eintreffen), sind gleich Null. Aber das Projekt hat eine Gemeinsamkeit mit dem Fyre Festival, die die “Fyre Festival of Burgers” und “Fyre Festival of Vaccine Rollouts" alle nicht haben: Beide versuchen, eine digitale Kultur analog erlebbar zu machen. Beim Fyre Festival war es der hohle Glamour von Instagram-Influencern, bei Cryptoland ist es der revolutionäre Spirit der “To the moon”-Blockchain-Enthusiasten.
Wie kann es soweit kommen? Warum wird den Leuten rund um dieses Projekt nicht klar, dass das nur ein Desaster werden kann?
Die Antwort verraten die Cryptoland-Gründer selbst. Eine der beiden sagt in einer vielsagenden Stelle des Videos: “This is V1”, und verweist damit auf die animierte virtuelle Darstellung von Cryptoland, die wir gerade gesehen haben. “Now we’re going to enter a very exciting phase, which is migriting V1 into the physical world, V2.”
V1 und V2 sind Begriffe aus der Software-Welt, insbesondere Krypto-Projekten. Sie stehen für “Version 1” und “Version 2” und bezeichnen i.d.R. Upgrades von einem Standard auf den nächsten, größere Software-Fortschritte, die für bessere Performance und neue Möglichkeiten sorgen sollen.
Die Cryptoland-Gründer verraten durch ihre Verwendung der Begriffe, dass sie in der analogen Welt nicht mehr sehen als eine Erweiterung der digitalen. Wir kennen das andersherum: Nike verkauft schon längst virtuelle Sneaker und Gucci virtuelle Handtaschen. Aber die Vorstellung, man könne einfach so Digital-Projekte in die reale Welt “migrieren”, zeigt, dass die physischen Gegebenheiten der Welt um uns herum in den Kalkulationen der Cryptoland-Träumer nicht auftauchen. Wenn es digital geht, muss es auch analog gehen. Es ist höchstens eine Frage des Geldes.
Und das sind keine Einzelfälle. Allein in den letzten 24 Monaten sind Pläne für ein Krypto-Kreuzfahrtschiff, eine Reddit-Insel (und anschließend eine Reddit-Stadt), eine DAO-Ersteigerung einer seltenen Abschrift der US-Verfassung und eine “Blockchain City” in Wyoming entweder gescheitert oder in gigantische Schwierigkeiten geraten.
Und es gibt allen Grund anzunehmen, dass das so weitergehen wird. Communities finden sich heute immer selbstverständlicher im Internet zusammen, wo man den Grenzen der analogen Welt nicht ausgesetzt ist. Und je wichtiger digitale Räume in unserer Gesellschaft werden (siehe Metaverse), desto selbstverständlicher wird sich der Gedanke anfühlen, digitale Gedanken in die analoge Welt bringen zu wollen.
Und: in den Echokammern dieser Communities wird Zuspruch immer sehr viel erfolgreicher sein als vernünftige Kritik. Gerade in Krypto-Communities sind Mitglieder oft nicht nur Teilhaber eines Projekts, sie haben auch ein finanzielles Interesse an seinem Erfolg. Da möchte niemand die Person sein, die durch ein paar gut gemeinte Nachfragen die Stimmung, und damit den Wert des Projekt-eigenen Kryptotokens senkt.
Nichts kann das Internet aufhalten. Außer vielleicht Logistik und Abfallwirtschaft.
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