Der wichtigste Popstar des Internets
Du hast noch nie von Matty Healy gehört, und das ist der Punkt
du liest cool genug, den tech-newsletter von gregor schmalzried. ich schreibe und berate zu tech und digitalem storytelling — find me on linkedin!
Es ist nicht leicht, moderne Popkultur und Fandom zu verstehen.
Aber man ist schonmal sehr viel weiter, wenn man Matty Healy versteht.
Der wichtigste Popstar des Internets
Am 10. Februar wurde Matty Healy, zum wiederholten Mal, gecancelt. Der Frontmann der Synthpop-Band The 1975 war zu Gast in einem Comedy-Podcast gewesen, und hatte dort Harry Styles “Queerbaiting” vorgeworfen, und einige kontroverse Witze gemacht.
Die Reaktion war in etwa das, was man erwarten würde. Es gab einige “Matty Healy sorgt für Entrüstung”-Artikel und die Instagram-Seite der Band wurde mit wütenden Kommentaren geflutet. “Jetzt auf eure Bilder abzulenken wird nicht dafür sorgen dass die Situation sich in Luft auflöst”, schrieb eine Userin unter dem damals aktuellsten Konzertfoto-Post.
Einen Tag später wurden The 1975 bei den Brit Awards als “Best Rock Act” ausgezeichnet. Zwei Tage später kündigte die Band ein One-Day-Festival in London an. In den Instagram-Kommentaren: Nur Begeisterung (und etwas Bitterkeit von Fans, die sich stattdessen eine Welttournee gewünscht hatten). Von Matty Healys Cancelung weit und breit nichts zu sehen. Mit der “Situation” war genau das passiert, was die Userin für unmöglich gehalten hatte: Sie hatte sich in Luft aufgelöst.
Diese kleine Anekdote ist eine Art Mikrokosmos für Matty Healy, den — so behaupte ich mal im Sinne einer guten Überschrift — wichtigsten Popstar des Internets. Es kann gut sein, dass du ihn überhaupt nicht kennst… Aber es lohnt sich, das zu ändern. Denn wer Matty Healy und The 1975 versteht, der versteht auch ein bisschen besser, wo wir gerade kulturell eigentlich stehen, wie Cancel Culture und Fandom zusammen passen, und in was für einem Umbruch sich die Popkultur befindet.
1. THE 1975
The 1975 ist eine britische Synth/Alternative/Indierock-Popband, die in den letzten zehn Jahren fünf Alben veröffentlicht hat. Sie sind außerdem — arguably — eine der größten Bands überhaupt zur Zeit.
In einer Welt, in der fast nur noch über Solokünstler*innen und kaum noch über Bands gesprochen wird, spielen The 1975 ausverkaufte Shows im Madison Square Garden und in Arenen auf der ganzen Welt. Der Fan-Subreddit hat 60.000 User*innen und auf dem Instagram-Hashtag #The1975Tattoo zeigen 7.500 Posts Fan-Tätowierungen, was als absolute Zahl erstmal wenig sagt, aber ziemlich aussagekräftig wird, sobald man erfährt, dass das doppelt so viele Posts sind wie bei #TaylorSwiftTattoo. Auf TikTok ist die Band gigantisch, und auf Konzerten kann bei allen Songs nicht nur Matty Healy jedes Wort singen, sondern auch das Publikum (das größtenteils aus jungen Frauen besteht).
Trotzdem hast du höchstwahrscheinlich noch nie von ihnen gehört. Aus dem Frühwerk haben noch ein paar Songs Chancen, auf einer Party erkannt zu werden (Chocolate oder Somebody Else zum Beispiel), aber spätestens seit 2018 bekommen The 1975 weder Radio Play noch irgendwelche Mainstream-Aufmerksamkeit. Ihr aktuell größter Song About You wurde nicht einmal offiziell als Single veröffentlicht, bringt aber gerade auf TikTok haufenweise Teenager zum Weinen (ich verlinke diese Videos jetzt nicht, aber wer sucht, der findet).
2. MUSIK ALS UNIVERSE
Here’s the thing: The 1975 sind eine sehr, sehr gute Band.
(Ich habe dieses Video mittlerweile geschätzt 80 Mal gesehen (kein Witz) und es wird jedes Mal besser, mein aktueller Lieblings-Part ist, wie die Bassline am Ende die Gesangsmelodie aus dem Refrain zitiert.)
Einmal sind da die ganzen offensichtlichen Sachen: Die Songs sind catchy as hell, die Produktion ist gleichzeitig komplex und federleicht, die Basslines kicken ass, dies das. Stil und Ästhetik schaffen es immer wieder, das ganze Chaos der Gegenwart künstlerisch einzufangen — jeder gute The 1975-Song ist ein Kampf mit der Realität, manchmal ein erfolgreicher, manchmal nicht. Auch die Bühnenshows der aktuellen Tour spiegeln das großartig wieder (“a defining blueprint of how to do arena shows” - Rolling Stone ist nur eines der vielen 5-Sterne-Zitate auf dem aktuellen Tourposter).
Vor allem aber ist der Output der Band ein Gesamtwerk, das einem immer mehr gibt, je mehr man hineininvestiert. Songs zitieren sich selbst, Musikvideos bauen aufeinander auf, wiederkehrende Symbole laden zum Theorisieren ein wie bei einer TV-Serie und permanentes Drama rund um die Musik, die Auftritte und die Posts der Band lassen sich verfolgen als ginge es um die Kardashians:
Diese Art von “Always On”-Entertainment begegnet uns heute überall: Im Marvel Cinematic Universe, in den Reality-Show-Universen von RTL und Netflix, und mittlerweile auch in der Popmusik. Die Königin hiervon ist Taylor Swift, die ihren Fans ständig geheime Botschaften hinterlässt, ihre Musik in ihr Privatleben integriert und andersherum. Richtige Taylor Swift-Fans verbringen schon lange jede Menge Zeit in einer Art Metaverse, in einer popkulturellen Parallelwelt, in der Kunst, Künstlerin und Fandom zu einem Gesamtwerk verschmelzen.
Nur ist Taylor Swift fast noch eine Ausnahme — einfach weil sie so bekannt ist.
Die Zahl der Popstars, die wirklich jeder kennt, wird immer kleiner. Wenn man vor zwanzig Jahren zufällige Leute auf der Straße gebeten hätte, einen Song von Britney Spears oder Shakira vorzusingen, hätte das wahrscheinlich geklappt. Würde man das Experiment heute mit Billie Eilish und Olivia Rodrigo wiederholen, hätte man sicher weniger Erfolg.
Popkultur fragmentiert sich immer stärker. Die Zeit des Popkultur-Pangäa, die Zeit der Samstagabend-Shows und Weltstars, die aus Mangel an Alternativen einfach jeder kannte, ist vorbei. Geblieben sind unzählige Entertainment-Inseln, wo man unter Gleichgesinnten über Hobbys, Serien und Popbands spricht, die auf der Nachbarinsel schon niemand mehr kennt.
Was auch vorbei ist: Das Konzept “break into the mainstream”. Früher haben Bands erst eine treue Fangemeinde angesammelt und dann versucht, diese zu erweitern. Für The 1975 (und auch Taylor Swift) spielt dieses Konzept keine große Rolle mehr. Ihr Hauptziel ist nicht, möglichst viele Fans zu bekommen, sondern die schon vorhandenen Fans möglichst obsessed zu machen.
Was früher einmal eine Kultband war, also eine Band mit einer treuen Followerschaft aber ohne Mainstream-Bekanntheit, ist heute der Default-Zustand für erfolgreiche Pop-Acts. Das heißt auch: Matty Healy ist ein Popstar für eine Welt, die über Popstars hinweg ist.
3. TAUSENDMAL GECANCELT TAUSENDMAL IST NICHTS PASSIERT
Das Seltsamste an diesem Text hier ist nicht einmal, dass ich in einem Tech-Newsletter 1.000 Wörter über eine Popband schreibe. Sondern, dass ich jetzt 1.000 Wörter geschrieben habe, ohne das Offensichtliche zu erwähnen:
“The 1975s Matty Healy ist TikToks neuester Mädchenschwarm”, schreibt Rebecca Jennings für Vox und drückt es damit sehr konservativ aus.
Matty Healy ist — verwirrenderweise — ein gigantisches Sexsymbol. Dass er aussieht, als wäre aus Harry Potter Erdkundelehrer geworden? Doesn’t matter.
Endgültig explodierte das Ganze letztes Jahr, als er anfing, auf Konzerten Fans zu küssen.
Denn die aktuelle Tour von The 1975 ist weit mehr als nur eine Musiktour, sie ist auch eine Reihe von zunehmend absurden Ereignissen.
An einem guten Abend holt Matty Healy einen Gast auf die Bühne, und es ist Taylor Swift.
An einem weniger guten Abend holt sich Matty Healy ein rohes Steak auf der Bühne, und isst es.
Und an fast jedem Abend küsst er irgendwen, teilweise seinen Sicherheitsmann, teilweise seine Bandmitglieder, hauptsächlich aber Fans, die sehr laut darum bitten (nachdem er vorher deren Ausweise überprüft hat, dass diese nicht minderjährig sind — und ja, ich weiß auch nicht).
Seine Fans wissen, dass Matty Healy eine Art Rolle spielt (teilweise spricht er auf der Bühne sogar darüber, “out of character” gehen zu müssen, um normale Emotionen zeigen zu können). Die Band und er sind sich dessen sehr bewusst, sie sind das was ihn ausmacht, das was Spaß macht.
Und Healys Eskapaden beschränken sich nicht auf die Bühne. Auf Twitter, wo er sehr gut hin passt, löscht er zwar oft seinen Account, kommt aber immer wieder. Unter einer wenig differenzierten Kritik des aktuellen The 1975-Albums kommentierte er neulich: “Schön zu sehen, dass die “Ein Pferd hat mir gegen den Kopf getreten”-Community auf Twitter floriert”.
Und natürlich ist Matty Healy auch schon sehr oft für diverse Sprüche und Witze gecancelt wurden. Oder eher “gecancelt”. Denn er ist ja noch da, und erfolgreicher denn je. Und zwar nicht nur trotz, sondern gerade wegen seines jungen weiblichen Publikums.
How?
4. FANSEIN IN DEN 20ERN
Fansein macht in den 2010er-Jahren eine gewaltige Entwicklung durch. Fansein wurde interaktiver, gemeinschaftlicher… und war immer mehr mit einer Anspruchhaltung verbunden.
Im Jahr 2012 mochten eine Menge Fans der Videospielreihe Mass Effect das Ende von Mass Effect 3 nicht. Aber anstatt sich damit zufriedenzugeben, fuhren sie eine monatelange Kampagne für ein neues Ende. Am Ende lenkte das Studio ein, und veröffentlichte tatsächlich ein zusätzliches Ende für das Spiel.
Diese Haltung ist heute in vielen Fandoms zur Normalität geworden. Fans sind daran gewöhnt worden, in die Kunst aktiv eingreifen zu können, sie mitgestalten zu dürfen. Sowohl der Inhalt als auch die moralischen Standards eines Werks sollen von der Fanbase mitgetragen werden – egal, ob das Werk eine fiktionale Serie oder ein real existierender Popstar ist.
Das Problem damit ist: Popstars, die sich permanent von ihren eigenen Fans messen lassen, sind nicht sonderlich aufregend. As It Was ist zwar ein super Track – aber sobald sein Sänger Harry Styles interviewt wird, klingt er wie ein Roboter, überbemüht, nichts zu sagen, was ihn angreifbar machen könnte.
Matty Healy ist das genaue Gegenteil. Sobald ein Mikrofon in der Nähe ist, wird er dreist, vorlaut und maßlos von sich selbst überzeugt, so sehr, dass es eigentlich schon wieder ironisch sein muss (oder ist das wieder das ironische daran?)
Vox-Autorin Rebecca Jennings erklärt Matty Healys Sexappeal durch seinen Gegensatz zu diesen Schoßhündchen-Popstars der letzten zehn Jahre.
Healy lies in contrast to a decade of wholesome, “unproblematic” hunks — the “golden retriever” internet boyfriends like Chris Evans, Harry Styles, Michael B. Jordan, and Oscar Isaac. He’s got what many of today’s leading men lack: a sex appeal that’s messy and maybe a little icky.
All das klingt fast ein bisschen nach Throwback. Danach, als wäre die Popwelt durch PR-Berater und Shitstorm-Ängsten so weich gespült worden, dass ein einziger Typ, der sich nicht um andere Meinungen schert, direkt für Aufsehen sorgt. Wie ein klassischer Rockstar halt.
5. WIE MAN DIE DYSTOPIE VERHINDERT
Der dystopischste Satz, die ich in den letzten Monaten gelesen habe, ist wahrscheinlich dieser hier:
Der Vorteil virtueller Künstler besteht darin, dass K-Pop-Stars oft mit körperlichen Einschränkungen oder sogar psychischen Problemen zu kämpfen haben, weil sie Menschen sind, während virtuelle Künstler davon befreit sind.
Er stammt von Park Jieun, der Gründerin der Virtual K-Pop-Band Eternity, und er zeigt, wie viele in der Entertainment-Branche über Kunst nachdenken. Park Jieun sieht Menschlichkeit in der Kunst nichts als Stärke. Sondern als Schwäche, die man überwinden sollte.
Die Revolution hinter künstlicher Intelligenz und virtuellen Popstars wird viele menschliche Künstler*innen vor eine Entscheidung stellen: Wollen sie versuchen, mit den makellosen KI-Stars mitzuhalten, die nicht schlafen müssen, keinen Burnout haben können und immer das sagen, was die PR-Abteilung sich wünscht?
Vielleicht wäre das ein Fehler. Wer versucht, all seine Menschlichkeit und Fehler auszuradieren, gibt der KI den Heimvorteil. Aber wer offen sagt “ich bin ein Mensch, ich habe ehrlich gesagt einen ziemlichen Knacks und bin unberechenbar und wahrscheinlich auch ziemlich problematisch, aber ich brenne für das was ich tue”… Mit dem können KIs und Avatare nur schwer mithalten.
Der Erfolg von Matty Healy und The 1975 ist nicht nur trotz ihrer Fehler. Er ist auch wegen ihnen. Messy ist das neue Sexy. Kaputt ist das neue Perfekt.
Außerdem
KI
Wie ein Münchner Student zur Zielscheibe von Microsofts KI wurde. br.de
Hat Bing ein Bewusstsein? linkedin.com
Problem für Amazon und Verlage: ChatGPT schreibt ganze E-Books. t3n.de
Sci-Fi Mag Pauses Submissions Amid Flood of AI-Generated Short Stories. pcmag.com
This Japanese manga artist-turned-politician is taking on AI art. restofworld.org
Why China Didn’t Invent ChatGPT. nytimes.com
Menschen und Maschinen
The internet has changed what "community" means. noahpinion.substack.com
Dystopia
The Website That Wants You to Kill Yourself—and Won’t Die. motherjones.com
🥩,