du liest cool genug — gregors newsletter über digitale kultur.
seit der letzten cool genug-ausgabe habe ich mehr über chatgpt geschrieben: für brand eins über das kommende konkurrenzverhalten zwischen menschen-gemachten und ki-gemachten texten — und für br24 einen kleinen primer für alle, die sich immer noch nicht ganz sicher sind was chatgpt eigentlich ist…
Das hier ist nicht die Zukunft
1.
Wir haben irgendwann aufgehört, uns die Zukunft vorzustellen.
Jahrzehntelang war Science-Fiction in Hollywood ein Wettlauf darum, wer die Zukunft am besten darstellen konnte. Auf die klinische Geometrie von 2001 (1968) und THX 1138 (1971) folgte Star Wars (1977), einer der ersten Mainstream-Filme, in der sich eine Science-Fiction-Welt nicht mehr frisch und steril, sondern alt und bewohnt anfühlte.
Und dann kam Blade Runner:
Blade Runner legte im Jahr 1982 den Grundstein für das Genre des Cyberpunk — gemeinsam mit dem zeitgleich erschienenen Manga Akira. Cyberpunk wird meist zusammengefasst als “high tech, low life” und zeigt futuristische Technologie und Cyberwerkzeuge, das aber aus einer “Street Level”-Perspektive, in der oft Drogen, Kriminalität, Sexualität und technologische Abhängigkeit eine Rolle spielen.
Ästhetisch ist Cyberpunk eng mit allem verknüpft, was schon in Blade Runner zu sehen war: Blaue und pinke Neonlichter, Trenchcoats und Leder, schnelle Brillen, komplexe und robuste Technologie in glänzendem Schwarz.
Und diese Zukunftsvision blieb nicht einfach auf die 80er beschränkt. Das zeigt auch das größte Science-Fiction-Werk der letzten fünf Jahre: Es ist ein Videospiel — und es heißt Cyberpunk 2077. Wie auch sonst.
Dass wir uns die Zukunft 40 Jahre nach Blade Runner immer noch quasi gleich vorstellen… Das ist beachtlich. Aber tatsächlich ist Cyberpunk nach wie vor sehr aktuell. Und das macht Sinn: In einer typischen Cyberpunk-Perspektive steht man in der Regel mit beiden Füßen in einer dreckigen verregneten Straße und hebt den Blick — über einem schwirren die futuristischen Flugzeuge und es surren die blauen und pinken Neonröhren, die uns ein besseres Leben in Form von Drogen und Sex verkaufen wollen. Klingt wie eine perfekte Metapher für das moderne Internet.
Aus dem Cyberpunk haben sich weitere Trends gebildet — darunter Y2K, Vaporwave und der immer noch wachsende Einfluss japanischer Popkultur auf die westliche. Es ist heute normal geworden, auf Cyberpunk als eine Art “Default”-Option zurückzugreifen, als die Standardeinstellung für alle Visualisierungen der Zukunft.
Genau wie wir uns magische Fantasy-Welten heute immer noch ungefähr so vorstellen wie vor vierzig Jahren, hat auch die Zukunft eine festgelegte Bildsprache erhalten. Cyberpunk und Retrofuturism forever.
2.
Was macht also jemand, der die Zukunft verkaufen möchte? Er verkauft die Zukunft der Vergangenheit. Denn das ist die Zukunft, die die Leute seit den 80ern verstehen.
Ich präsentiere: Die Google Bilder-Suchergebnisse für das Wort “Metaverse”.
Es gibt nur zwei technologie-spezifische Elemente in diesen Bildern: Erstens die Virtual Reality-Brillen (interessant auch, dass die Träger der Brillen immer nach oben schauen, also den gleichen Street Level-Blickwinkel einnehmen wie Cyberpunk-Protagonisten). Und zweitens die etwas krude und glatte Animation der virtuellen Avatare von Horizon Worlds (links unten), die vor allem markieren, dass es sich um ein einfach bedienbares Videospiel handelt.
Alle anderen Elemente in diesen Bildern wirken wie per Copy & Paste mit Cyberpunk- und Vaporwave-Grafiken aufgefüllt. Die Zukunft ist die Vergangenheit.
Und wir haben die Zukunft mittlerweile satt. Teil des aktuell laufenden Metaverse-Backlash ist auch ein Backlash gegen genau diese Ästhetik. Die pink-blauen VR-Brillen-Montagen sind mittlerweile wirklich etwas durch. Und bald wird das noch schlimmer. Denn DALL-E, Midjourney und andere generative KIs machen es immer leichter, diese flache seelenlose Version der Zukunft selbst zu generieren — und für den eigenen Content zu verwenden:
3.
Aus der Welle der gleichförmigen Metaverse-Grafiken droht also eine ganze Flut zu werden.
Was tun?
Ich empfehle den Rat von Matty Healy, Frontmann von The 1975. In der New York Times sagte er über die Herangehensweise seiner Band beim neuesten Album folgendes:
“Play it and record it.” Real instruments. You can always find something in a computer that can do the job. Let’s just not do that. Everyone can do all of that and no one cares anymore. […] What you can’t do is have been in a band for 20 years and be great players and go into a room and have that freedom.
Die visuelle Sprache des neuen Albums greift diesen Gedanken auf. The 1975-Albumcover bestanden bisher immer aus Neon-Röhren oder geometrische Farbstrukturen. Being Funny in a Foreign Language ist das erste Album der Band, dessen Cover nur aus einem Foto besteht. KI-proof, quasi.
Dieser Shift weg von extrovertiertem Cyberpunk-Neon hin zu einem geerdeten, naturhaftem Look ist gerade der Trend in der Popmusik. TikTokerin @moonybug hat den Trend “Solar Powerification” getauft, nach der Entwicklung der Sängerin Lorde zwischen ihren Alben Melodrama und Solar Power.
Man sieht ihn bei Carly Rae Jepsen:
Bei Harry Styles:
Und natürlich bei Taylor Swift, die den Trend quasi losgetreten hat. Ihr Album Folklore im Corona-Jahr 2020 war nicht nur ein musikalisches Ereignis, sondern auch ein ästhetisches. Es prägte den Aufstieg von “Cottagecore”, einer Design- und Lifestyle-Sprache die Natürlichkeit, Haptik und Basteleien über künstliche Oberflächen und den Cyperspace stellt.
Diese Erdung der Popkultur wird manchmal als Rückbesinnung auf die Vergangenheit verstanden. Das stimmt ein bisschen, aber: auch die futuristischen Neon-Töne der Cyber-Welle waren eine Rückbesinnung auf die Vergangenheit — nur eben auf eine Vergangenheit, die in die Zukunft geblickt hat. Cottagecore hingegen spielt mit einer Vergangenheit, die sich selbst genug war. Universum ohne Metaversum. Beweisen, dass man wirklich existiert, und nicht nur als digitaler Avatar. Beweisen, dass man Gras berührt.
4.
Pink und blau sind die Lieblings-Farben der Tech-Welt. Weil wir uns in den Jahrzehnten seit Blade Runner darauf geeinigt haben, verbinden wir diese Farben grundsätzlich mit neuer Technologie. Autos, Gaming-Headsets, Smart Home-Geräte haben heute meist blaue Leuchtelemente — nur damit wir uns mit ihnen ein bisschen fühlen wie in Blade Runner.
Dabei ist blaues Licht für Alltagstechnologie eigentlich null geeignet. Blaues Licht stört unseren Tag-Nacht-Rhythmus und unseren Hormonhaushalt (deshalb nutzt das Militär in seinen Cockpits auch oranges Licht). Es ist also nur die Performance von Zukunft — sollte diese Zukunft Realität werden, wäre sie in jedem Sinne schlechter als die Gegenwart. Und das merken wir allmählich.
Schon jetzt lösen sich einige der interessantesten Zukunftsprojekte bewusst von der Cyberpunk-Hegemonie. Die DAO Friends with Benefits identifiziert sich anders als die meisten Web3-Projekte nicht über kühle Cyber-Oberflächen, sondern über reale grüne Wälder in der Nähe von Los Angeles, wo sie kürzlich ihr erstes Musikfestival veranstaltet hat. Und Gegenästhetiken wie “Solarpunk” lassen sich von Cyberpunk inspirieren, stellen aber andere Aspekte in den Vordergrund — und verzichten bewusst auf Blau und Pink.
Wenn die Zukunft einmal da ist, wird sie nicht mehr aussehen müssen wie die Zukunft. Sie wird kein Neon-Licht brauchen, um sich bemerkbar zu machen.
Außerdem
Gregor woanders
ChatGPT: Rindfleisch mit Vanillesoße. brandeins.de
ChatGPT: So spricht man mit einer künstlichen Intelligenz. br.de
KI
The state of AI in 2022—and a half decade in review. mckinsey.com
Betrug, Verbote oder Nutzung: Was GPTChat für die Schule bedeutet. schulesocialmedia.com
Content
The internet wants to be fragmented. noahpinion.substack.com
How publishers are learning to create and distribute news on TikTok. reutersinstitute.politics.ox.ac.uk
These are the emoji to watch in 2023. maxread.substack.com
Bored Ape water, FWB x Hennessy, and a mansion party. dirt.substack.com
Fandom
Is China’s virtual idol boom a marketing trend with staying power? technode.com
Kultur-King Korea: Wie die südkoreanische Popkultur die Welt erobert. 3sat.de
Menschen und Maschinen
I Don’t Want to Be an Internet Person. palladiummag.com
The Woman who made online dating into a ‘science’. theatlantic.com
On Twitch, You Can Never Log Off. every.to
Dystopia
Trolling as a Service in 2022. medium.com
How the Sports Betting Industry Quietly Consumed America. youtube.com
“Online testing is a joke”: How Chinese students cheat on U.S. college entry exams. restofworld.org
Investigating Logan Paul’s Biggest Scam. youtube.com
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