Das Ende der Geschichte
Francis Fukuyamas Essay “The End of History?” aus dem Jahr 1989 wäre vermutlich längst in Vergessenheit geraten, würde es nicht heute noch einen so guten Text-Einstieg liefern. Fukuyamas These wird von denen, die sie zitieren, meist so zusamengefasst: “mit dem Ende des Kalten Krieges wird die liberale Demokratie einen Siegeszug über die gesamte Welt antreten und sich nur immer mehr festigen.”
Heute wird die Idee des “End of History” vor allem deswegen gerne herausgeholt, weil sie so absurd falsch wirkt (ob sie das tatsächlich war, ist ein bisschen komplizierter, aber die Zahl der Menschen, die Fukuyamas Werk gelesen haben, ist sehr viel kleiner als die der Menschen, die den Titel zitieren). Wir stecken nämlich mittendrin in der Geschichte. Leider. Eine autokratische Übermacht ist in eine junge Demokratie mitten in Europa eingefallen und begeht dort Kriegsverbrechen. Die zweitgrößte Partei der Vereinigten Staaten wird politisch allmählich kongruent mit einem gewalttätigen Mob, der im Kapitol die US-Demokratie stürzen wollte.
Filmemacher in fünfzig Jahren werden endlose Möglichkeiten haben, die Jahre 2020 bis 2022 darzustellen: Trump, FFP2-Masken, Ukraine-Flaggen, Greta Thunberg, und so weiter. Der Abschnitt der Weltgeschichte, den wir aktuell durchmachen, ist also so klar definiert wie nur möglich.
Was die Frage aufwirft: Warum ist unsere Popkultur so undefiniert?
Popkultur früher bestand aus Hits. Aus Knallern, gestern nirgendwo, heute überall. Eine lineare Abfolge von Trends und Ereignissen, aufgespaltet in verschiedene Ären.
Popkultur heute ist Oldieradio, aber für alle Generationen: Ein endloser Feed aus Wiederkehrendem und Remixes, statt Hits und Ereignissen überall nur noch Vibes und Moods.
Nachrichtenmäßig leben wir vielleicht im Jahr 2022. Aber kulturell leben wir in allen Zeiten gleichzeitig. Wir leben in einer endlosen Gegenwart.
Am besten versteht man dieses Phänomen durch einen Blick auf die Musikindustrie, wo 70 Prozent des Markts mittlerweile aus alter Musik besteht und der Markt für neue Musik aktiv schrumpft.
Wann war das erste Mal, dass Mariah Careys All I Want For Christmas Is You es auf Platz 1 der Single-Charts schaffte? Kurz nach Erscheinen 1994? In der darauf folgenden Weihnachtssaison? Nein — es war Weihnachten 2019. Seitdem ist der Song jedes Jahr um die Weihnachtszeit auf Platz 1 der Charts zurückgekehrt.
2020 schaffte Fleetwood Macs Meisterwerk Dreams aus dem Jahr 1977 es auf dem Rücken eines viralen TikTok-Clips zurück in die Single-Charts und war wochenlang so präsent wie ein neuer Billie Eilish-Song.
Und der aktuelle Nummer 1-Hit in den USA ist Heat Waves von Glass Animals — ein Track einer britischen Indie-Band, der im ersten Lockdown 2020 veröffentlicht wurde und fast zwei Jahre für seinen Aufstieg der Chart-Leiter brauchte.
Heat Waves ist — natürlich — auch ein TikTok-Hit. Und TikTok spielt in der Verflachung unserer Popkultur eine wichtige Rolle. Viel wird über TikToks ominösen Algorithmus geschrieben, viel über die Verbindungen zum chinesischen Mutterkonzern… Aber es gibt einen Aspekt der App, der erstaunlich wenig diskutiert wird: TikToks Feed ist zeitlos. Das bedeutet: Die Videos, die man auf der For You-Page ausgespielt bekommt, stehen dort ohne Zeitangabe. Um herauszufinden, ob ein Video vor vier Stunden oder vor vier Jahren hochgeladen wurde, braucht es ganze zwei Klicks — im Internet eine Ewigkeit.
Das hat allerlei eigenartige Nebeneffekte — etwa, dass zum Ukraine-Krieg viele alte Clips wieder viral gegangen sind, weil ahnungslose Feed-Gucker sie für aktuell halten. Aber im Kern ist TikTok ganz bewusst so designed. So wie Twitter so gebaut ist, dass man die aktuellste Kontroverse möglichst schnell per Wasserstrahl ins Gesicht gesprüht bekommt, besteht TikTok eher aus diffusen Wellenbewegungen, in denen Altes und Neues in vibeförmigen Wasserfällen über das Publikum herabregnet.
Und damit ist TikTok wie gemacht dafür, die große kulturelle Driving Force unserer Zeit zu bespielen: Nostalgie.
Die Vergangenheit ist Goldader. Und sie wird jeden Tag kulturell ausgebeutet.
Ich würde dafür gerne einen — möglicherweise neuen — Begriff vorstellen: “Nostalgia Coding”: ein kreatives Werk explizit über seine Verbindung zu einer vergangenen Zeit definieren. Einige Beispiele:
Taylor Swift spielt zehn Jahre alte Songs, als wären sie neue Singles.
Disney wird in den nächsten Jahren mindestens zehn neue Star Wars-Serien und -Filme veröffentlichen.
Ein Video, das nichts zeigt als ein altes iPhone, wird durch Nostalgia Coding zum Klickhit:
Und Fotos wie dieses schaffen es, aus Zeitepochen ganze ästhetische Genres zu machen: (Klicke hier für einen faszinierenden Deep Dive in den Ursprung dieses Fotos, welches wohl im Jahr 2020 aufgenommen wurde.)
Es gibt drei wichtige Jahreszahlen, um unsere endlose Gegenwart zu verstehen:
2019 — vermutlich der Beginn der Hyper-Nostalgie-Welle, in der wir uns aktuell befinden (All I want For Christmas Is You auf Platz 1, das letzte Jahr vor Corona)
2016 — die Codifizierung der Tatsache, dass die Gegenwart schlechter ist als die Vergangenheit (Trump, Brexit, aber vor allem wird Star Wars: Das Erwachen der Macht einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten, obwohl er alles von seinem Plot bis zu seinen Darstellern aus den 70ern kopiert)
2001 — das Ende der Neunziger mit dem 11. September und das Ende von Fukuyamas Ende der Geschichte
Kein Wunder also, dass so viele so obsessed mit den Neunzigern sind. Autor Chuck Klosterman hat die Neunziger im Rahmen seines neuen Buch The Nineties kürzlich sogar als “das letzte Jahrzehnt” bezeichnet.
What I mean by that is that it’s the last ten-year calendar span that seems to have immutable values, and immutable old fashions, and immutable ideas that make it seem separate from the period that it came previously. I think we are now more in a period of perpetual now where the difference between 2009 and 2019 seems almost impossible to perceive outside of discussions about politics. Politics is the only place that still seems to have these demarcations of change.
In der aktuellen Ausgabe des Podcasts Die sogenannte Gegenwart wird zudem ein Schlüsselsatz des Buchs zitiert:
It was a decade of seeing absolutely everything before never seeing it again.
Im Gegensatz dazu macht der Archivierungs- und Remix-Drang des Internetzeitalters aus unserer endlosen Gegenwart “a decade of seeing absolutely everything that you have ever seen, all of the time”. Oder in anderen Worten, das Jahrzehnt von TikTok.
Nur dass “Jahrzehnt” das falsche Wort ist. Denn ich glaube, die endlose Gegenwart begann um Weihnachten 2015 mit dem Release von Star Wars: Das Erwachen der Macht. Und hat seitdem nicht aufgehört.
Das kulturelle Ende der Geschichte ist mehr als nur die Geschichte von TikTok, oder Disney. Vermutlich ist es auch unsere Sehnsucht nach dem Ende der Geschichte in der “echten” Welt — der Wunsch danach, unsere Ichs parallel aufzuspalten in die Zeitepochen, in denen es sich noch nicht permanent so angefühlt hat, als würde alles den Bach runtergehen.
Das heißt aber auch: Sollte es irgendwann wieder den Bach raufgehen, werden die Dinge vielleicht auch wieder linear passieren. Ich hoffe das beste.
Außerdem
Warum weiß niemand, was das Metaverse ist? br.de
Ukrainian influencers bring the frontline to TikTok. theverge.com
Google search is dying. dkb.io
The adorable love story behind Wikipedia’s ‘high five’ photos. inputmag.com
Six months in, El Salvador’s bitcoin gamble is crumbling. restofworld.org
My lizard brain is no match for infinite scroll. alexanderell.is
Europe’s Third Way is Web3: Why the EU Should Embrace Crypto. law.stanford.edu
Brat TV, a small Hollywood studio, wants to be the middle ground between Netflix and TikTok. vox.com
The internet forgot about Clubhouse. Anti-war Russians didn’t. inputmag.com
Die gute Seite
Meine beste YouTube-Entdeckung seit Jahren: Jacob Geller erstellt Video-Essays über Kultur und Psyche — mit viel Fokus auf Videospielen. Obwohl ich selbst kaum ein Gamer bin, finde ich in jedem Video Insights und Ideen.
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